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"Hilfen werden irgendwann zu Schulden"

Von Marina Delcheva

Wirtschaft

Der ukrainische Ökonom Tymofiy Mylovanov über Wirtschaften in Kriegszeiten, Hilfen und Schulden.


Eigentlich könnte der ukrainische Ökonom Tymofiy Mylovanov jetzt in Pittsburgh sitzen und in Sicherheit forschen und lehren. Er sitzt stattdessen in seiner Kiewer Wohnung. Sie ist derzeit zwar noch warm, aber der Strom ist wieder ausgefallen. Das passiert oft, Russland zerstört gezielt die Energie- und Wasserversorgung des Landes. "Es wäre nicht richtig gewesen, wegzugehen", sagt der Präsident der privaten Universität "Kiev School of Economics" und ehemalige ukrainische Wirtschaftsminister. Ein Gespräch über das Wirtschaften in Zeiten des Krieges, ausländische Hilfen und ein bisschen Alltag im Kriegstreiben.

"Wiener Zeitung": Sie könnten jetzt auch in den USA sitzen und an der Universität von Pittsburgh Volkswirtschaft lehren. Warum haben Sie sich entschieden, in Kiew zu bleiben?Tymofiy Mylovanov: Alles andere hätte sich falsch angefühlt. Ich habe das bis jetzt auch nicht bereut, eigentlich bin ich stolz, dass ich hier bin und versuche, meinen Beitrag zu leisten. Normalerweise habe ich zwei Leben: Ich bin ein halbes Jahr lang in den USA, wo ich viel forsche, und ein halbes Jahr bin ich in Kiew, wo ich die "Kiev School of Economics" manage.

Auf Twitter schreiben sie regelmäßig Threads über den Alltag im Krieg - zwischen Hörsaal, Luftschutzbunker und Essen mit Freunden bei Kerzenlicht . . .

Wenn ich in den USA bin, dann bin ich sehr viel mit Forschung und akademischer Arbeit beschäftigt. Das hat etwas Medidatives, Spirituelles. Hier habe ich diesen Luxus nicht, besonders jetzt. Manchmal berate ich die Regierung in Wirtschaftsbelangen. Ich muss mich um den Fortbestand unserer Universität kümmern und mir überlegen, wie wir durch den Krieg kommen. Ich muss Investoren suchen, um die Universität weiter zu finanzieren. Der Alltag hier ist sehr unberechenbar geworden. Man wacht auf, schaut, ob und wie man in die Arbeit kommt. Bei einem Luftalarm hat man in Kiew circa 40 Minuten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Jetzt gerade sitze ich zuhause und muss mir nach dem Gespräch anschauen, wie wir den Strom wieder zum Laufen bringen können. Meine Twitter-Einträge geben mir eine Art von Routine, sie sind wie ein Tagebuch.

Wie hat der Krieg das Uni-Leben verändert?

Bevor die Vorlesungen beginnen, müssen wir natürlich zuerst prüfen, ob Luftangriffe angekündigt sind. Wenn ja, dann findet die Vorlesung meist online statt und alle bleiben, wo sie sind, und in Sicherheit. Und wenn der Alarm während der Vorlesung losgeht, bringen wir die Studenten in den Luftschutzbunker und manchmal machen wir dort hybrid weiter. Der Krieg hat aber auch den Zusammenhalt der Studenten verstärkt. Manchmal bleiben sie übers Wochenende an der Uni oder übernachten sogar hier. Das gibt vielen Halt.

Wie hat der Krieg die Wirtschaftsforschung in der Ukraine verändert?

Aus dem Krieg ergeben sich natürlich neue Forschungsfelder für uns. Zum Beispiel im Bereich des Leap-Frogging (das Auslassen einzelner gesellschaftlicher oder Wirtschaftsstufen im Entwicklungsprozess eines Landes etwa, Anm.). Der Krieg hat nicht nur Infrastruktur, sondern auch viele Denkmuster zerstört. Es geht jetzt sehr viel um technische und wirtschaftliche Anpassung, um Resilienz. Der Wille der Menschen, zu lernen und sich anzupassen, ist enorm. Es stellen sich auch Fragen zum Arbeitsmarkt, die Integration von Kriegsveteranen, die Auswirkungen der Migration. Und wir sind auch mit sehr viel Propaganda konfrontiert: Es sei ein Bürgerkrieg, ein Proxy-Krieg zwischen den USA und Russland. Nein! Russland ist in die Ukraine einmarschiert. Dieser Krieg findet auf unserem Boden statt. Russland attackiert nicht die Nato und tötet und foltert keine Nato-Soldaten, sondern Ukrainer. Auch in Washington sehe ich viel Arroganz, was etwa die Waffenlieferungen betrifft. Am Ende des Tages brauchen Sie immer noch die Person, den Staatsbürger, der am Abzug sitzt und bereit ist zu sterben, oder auch nicht. Das kann man nicht kaufen. Auch dazu möchten wir demnächst forschen.

Der Krieg hat einen massiven wirtschaftlichen Einbruch zur Folge. Die BIP-Prognose für 2022 lag bei minus 35 Prozent.

Die jüngsten Zahlen zeigen, dass es "nur" 30,4 Prozent waren. Das hat viele überrascht, weil wir sogar kurzzeitig von 40 Prozent ausgegangen sind, wegen der Infrastrukturangriffe. Aber die Wirtschaft scheint sich an die Situation anzupassen. Dienstleistungen werden noch angeboten, die Restaurants haben eigene Blackout-Menüs. Auch die Landwirtschaft funktioniert. Die Logistikkosten sind zwar gestiegen und wir haben auch Land verloren, aber der Sektor ist funktionsfähig. Es hängt auch viel von der Luftabwehr ab, das ist jetzt auch zur Wirtschaftsfrage geworden. Wenn wir ein gutes Luftabwehrsystem haben, hat Russland weniger Treffer und auch das Wirtschaftsleben kann weitergehen.

Die EU hat der Ukraine für heuer 18 Milliarden Euro an finanzieller Hilfe zugesichert, die USA 22 Milliarden US-Dollar. Wie wichtig ist dieses Geld für das Land?

Das ist natürlich sehr wichtig. Meine Sorge ist aber, was in 20 bis 30 Jahren passieren wird. Dann verwandeln sich diese Hilfen, die jetzt während des Krieges und später in den Wiederaufbau fließen, in Schulden. Wenn wir zum Beispiel innerhalb eines Jahres hunderte Millionen Dollar zurückzahlen müssen, dann befürchte ich, dass es zu gesellschaftlichen und politischen Zerwürfnissen kommen wird.

Die ukrainische Regierung hat einen ambitionierten, nationalen Aufbauplan vorgelegt, der einen Anstieg der Wirtschaftsleistung um 500 Milliarden US-Dollar bis 2032 vorsieht. Wie zuverlässig und realistisch ist dieser Pfad angesichts des Krieges?

Die größte Hürde bleiben natürlich die Angriffe der russischen Armee. Das bedeutet auch, dass viele staatliche Mittel in die Verteidigung fließen werden. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Land wirtschaftlich wachsen kann, wenn es 20 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Selbstverteidigung stecken muss. Aber, dank der internationalen Hilfen, ist das nicht unmöglich. Außerdem hat sich unser BIP zwischen 2015, nachdem es stark gefallen war, bis 2021 verdoppelt. Und auch wenn das BIP jetzt sinkt, ist es nominal auch heuer noch immer höher als 2013 etwa.

Auch wenn sich internationale Firmen derzeit wegen des Krieges mit Investitionen zurückhalten, haben sie das Land seit Kriegsausbruch nicht verlassen. Warum?

Ich glaube, hier geht es weniger um eine wirtschaftliche Entscheidung, sondern darum, was man als richtig und was man als falsch empfindet. Es ist keine kommerzielle Entscheidung. Für viele Investoren war es richtig, Russland zu verlassen und in der Ukraine zu bleiben. Außerdem hoffen viele, vom Aufschwung nach dem Krieg zu profitieren.

In der EU gibt es auch Stimmen, die Verhandlungen und einen Kompromiss zwischen Russland und der Ukraine fordern. Wie reagieren Sie auf solche Zurufe?

Ich verstehe, dass viele Menschen besorgt und verstört sind wegen des Krieges und sie es gut meinen. Die gängigsten Argumente sind: Jeder Krieg hat zwei Seiten, die Ukraine muss ja auch etwas falsch gemacht haben. Russland ist zu groß, um besiegt zu werden. Kiew wird in drei Tagen fallen. Letzteres ist nicht passiert. Die Ukraine hat bisher die Hälfte der von Russland annektierten Gebiete zurückerobert. Es wird ein harter Kampf und Russland macht, was es immer gemacht hat: Millionen von Menschenleben in den Krieg werfen. Im Zweiten Weltkrieg waren es übrigens auch Ukrainer und Weißrussen, die sie an die Front schickten. Auch kleine Länder können sich gegenüber Großmächten verteidigen.

Denken Sie an Großbritannien im Zweiten Weltkrieg. Sobald Menschen den Widerstand beschließen und für ihr Land zu kämpfen bereit sind, können sie nicht zur Kapitulation gezwungen werden. Auch das Verhandlungsargument ist falsch. Die Ukraine hat von Anfang an ihre Verhandlungsposition kommuniziert: Russland muss das ukrainische Staatsgebiet verlassen und Reparationszahlungen leisten. Aber Russland gesteht uns diese Position nicht einmal als Verhandlungsbasis zu. Russland erkennt nicht einmal die Existenz der Ukraine an, spricht aber von diplomatischen Lösungen. Mit wem denn? Dieser Krieg wird enden, wenn Russland aufhört, Ukrainer zu töten, zu vergewaltigen und zu deportieren. Und wenn sichergestellt ist, dass das auch nicht wieder passiert.

Zur Person~