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"Wir sind im Kalten Krieg 2.0"

Von Marina Delcheva

Wirtschaft
Die Politologin Velina Tchakarova sieht eine Teilung der Welt in zwei mächtige Wirtschaftsblöcke, die derzeit den globalen Ton angeben.
© Ralf Manfred

Politologin Velina Tchakarova über die neue Weltordnung und die Gabelung der Geschichte.


Der 24. Februar 2022, der erste Tag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, war eine Zäsur für die ganze Welt. Spätestens heute ist klar, dass nichts mehr so sein wird, wie es war. Auf ukrainischem Boden kämpfen nicht nur die Ukrainerinnen und Ukrainer um ihren Fortbestand als Nation. Mit ukrainischem Blut wird auch gerade die neue Weltordnung geschrieben. Und dort spielen, zumindest wirtschaftlich betrachtet, weder die EU-Staaten noch Russland die Hauptrolle. Ein Gespräch mit der Politologin und geopolitischen Expertin Velina Tchakarova über den neuen Kalten Krieg 2.0 und die zweigeteilte Welt.

"Wiener Zeitung": Während Joe Biden durch Kiew spazierte, wurde Chinas leitender Außenpolitiker Wang Yi in Moskau empfangen. Sind das die ersten historischen Bilder eines neuen Kalten Kriegs zwischen dem Westen und den Russland-Verbündeten?

Velina Tchakarova: Eigentlich war schon der Einmarsch Russlands in die Ukraine vor einem Jahr der Beginn des neuen Kalten Kriegs 2.0. Schon damals hat sich Russland ganz klar in Richtung China positioniert und hat auch von Peking volle Unterstützung bei der sich abzeichnenden internationalen Isolation eingefordert. Und auch bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise im eigenen Land. Russland wurde ja mit den härtesten Wirtschaftssanktionen belegt, die je gegen ein Land ausgesprochen wurden. Die Besuche von Joe Biden und Wan Yi sind nur das nächste Beispiel, dass wir uns schon inmitten des Kalten Kriegs befinden.

Wie haben der Krieg und die damit einhergehende Energie- und Inflationskrise die globalen Wirtschaftsverhältnisse verändert? Welche Rolle werden künftig Indien und China spielen?

In Wahrheit finden diese Prozesse, diese Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse, schon länger statt, bisher allerdings abseits unserer Wahrnehmung. Im konkreten Fall würde ich es mit dem physikalischen Terminus Bifurkation beschreiben: eine Gabelung des globalen Gefüges. Wenn ein System ein gewisses Entwicklungsniveau erreicht hat, beginnt es sich zweizuteilen. Und beide Teile verselbstständigen sich. Dieses Phänomen beobachten wir gerade in allen relevanten globalen Systemen - in der Weltwirtschaft, in der Geopolitik, im internationalen Handel, im Energiesektor, in der Ressourcenverteilung. Eigentlich findet eine umfassende gegenseitige Entkoppelung zwischen den USA und China statt, die Auswirkungen auf die sich neu formende Weltordnung haben wird.

Was ist mit Indien?

Indien ist tatsächlich noch ein großes Fragezeichen. Das Land entwickelt sich wirtschaftlich sehr schnell und könnte noch in diesem Jahrzehnt zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen. Das wird natürlich große Auswirkungen auf die Gesellschaft und auf das politische und wirtschaftliche System haben. Und natürlich auf Indiens regionale und globale Rolle. Aber derzeit diktieren noch die zwei Machtzentren USA und China die globalen Spielregeln. Auch für Russland im Fall von China. Aber auch Australien hat mit den USA und Großbritannien einen militärischen Sicherheitspakt geschlossen. Wir müssen nun beobachten, welche Zentrifugalkräfte diese Bifurkation entwickelt. Denn die internationalen Player werden früher oder später eine Seite wählen und sich klar positionieren müssen. Derzeit ist das aber noch nicht der Fall. Weil alle politischen Entscheidungsträger sehr darum bemüht sind, eben keine endgültige Entscheidung treffen zu müssen. In der EU sehen wir das sehr deutlich: Die meisten Länder sind einerseits strategische Partner der USA, auf der andren Seite bestehen enge wirtschaftliche Verbindungen mit China.

Welche Rolle spielt dann die EU in dieser neuen Weltordnung? In der Vergangenheit war der Kontinent die balancierende Kraft zwischen den USA und Russland. Das funktioniert so aber nicht mehr.

Hier ist es sehr wichtig, dass unsere Diagnostik, unsere Urteilsfindung als Union funktioniert. Bisher haben die EU-Länder in Bezug auf die Ukraine eine einheitliche Position bezogen und schnell gehandelt, was Sanktionen und Hilfen betrifft. Und das, obwohl wir einen eigentlich sehr komplizierten europäischen Entscheidungsfindungsmechanismus haben. Jetzt müssen wir aber das Risiko der internen Zerrissenheit minimieren. Und diese wird im Zuge des Gabelungsprozesses mit Sicherheit zunehmen. Wenn viele Mitgliedsländer die EU-Integration hinter die Sicherheitsfrage stellen und sich mit den USA sicherheitspolitisch verbünden, weil die EU eben kein militärischer Block ist, kann es zu einer innereuropäischen Zerrissenheit kommen: Zwischen der deutsch-französischen Achse, die sehr auf europäische Integration setzt; und den nord-, osteuropäischen und baltischen Staaten, für die Sicherheit und die Wahrung der territorialen Unversehrtheit eine viel wichtigere Rolle spielen.

Wie können wir dieser innereuropäischen Zerrissenheit entgegenwirken?

Wir können dem ein bisschen vorbeugen, wenn wir die europäische Sicherheit im Rahmen der Nato ausbauen. Noch heuer wollen ja Schweden und Finnland dem Militärbündnis beitreten. Es geht darum, auch militärisch ein starker und wehrhafter Partner zu werden. Gleichzeitig ist die EU vor allem ökonomisch stark, nicht militärisch. Wir müssen sicherstellen, dass wir als Union wirtschaftlich auf Augenhöhe mit China und den USA bleiben. Ich plädiere zum Beispiel dafür, das Mandat der EU-Kommission beim Verhandeln von internationalen Handelsabkommen zu stärken: mit Indien, mit den Asean-Staaten. So können wir uns als internationales und institutionelles Gegengewicht positionieren und damit auch hohe rechtliche Normen und Standards vorgeben. Russland als Diktatur zerstört nämlich genau das: den integren, starken Rechtsstaat mit Rechten und klaren Spielregeln für alle.

Wifo-Chef Gabriel Felbermayr meinte am Donnerstag: "Dieser Krieg hat uns alle ärmer gemacht." Wird Europa ärmer oder doch Russland mit fortschreitender Kriegsdauer?

Russland ist jetzt schon deutlich ärmer. Außerdem hat sich Russland wirtschaftlich stark von China und Indien abhängig gemacht, nachdem es die Beziehungen zu Europa de facto gekappt hat. Es ist nun gezwungen, seine Energieressourcen und seine Rohstoffe weit unter dem Marktpreis an diese Länder zu verkaufen, die wirtschaftlich davon profitieren.

Und das betrifft uns natürlich auch. Wir müssen der Bevölkerung klarmachen, dass dieser Krieg, der vor einem Jahr begonnen wurde, sich nicht nur gegen die Ukraine richtet, sondern gegen uns alle und gegen alles, wofür die EU steht. Es geht auch darum, das erfolgreiche Modell der EU-Integration, des wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands zu zerstören. Russland wollte der Welt zeigen, dass wir ein schwaches, energiearmes Europa sind, dessen Wohlstand allein von Russland abhängt. Dass wir nicht in der Lage sind, unsere Energiesysteme zu diversifizieren. Aber das ist nicht gelungen. Wir konnten uns, zumindest auf EU-Ebene, von Russland unabhängig machen im Energiebereich. All diese Verwerfungen am Weltmarkt und die aktuelle Wirtschaftskrise haben in Wahrheit schon vor dem Krieg, während der Pandemie begonnen. Der Krieg hat die Wirtschaftskrise aber verstärkt. Die 27 EU-Staaten haben dennoch mehr Handlungsoptionen und finanzielle Mittel zur Krisenbekämpfung, um viel schneller als Russland aus dieser Krise herauszukommen. Russlands wirtschaftliches Fortkommen hängt deutlich stärker von dessen Verbündete ab, als es bei der EU der Fall ist.

Wo sehen Sie künftig Russland?

Wenn Russland diesen Krieg verliert, fällt es auf ein ökonomisches Niveau zurück, das man nicht einmal mit dem Kollaps der UdSSR vergleichen kann. Es wäre vielleicht sogar vergleichbar mit dem Entwicklungsstadium des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Das kann sogar bis hin zur Auflösung der Russischen Föderation führen. Wenn die Ukraine den Krieg verliert, dann verliert nicht nur das zweitgrößte europäische Land seine Existenz als souveräner Staat, damit fällt auch die Sicherheitsordnung in ganz Europa.

Velina Tchakarova ist Politologin und Expertin für Geopolitik. Derzeit leitet die gebürtige Bulgarin das Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES).