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Aussaat im Ausnahmezustand

Von WZ-Korrespondent Denis Trubetskoy

Wirtschaft
Minen erschweren die Arbeit der Bauern auf den ukrainischen Feldern.
© adobe stock / Mny-Jhee

Die Zukunft der Ukraine liegt in der Landwirtschaft. Verminte Felder, Düngermangel und Logistikprobleme erschweren jedoch den Anbau.


Agrarwirtschaft war schon immer eine Stärke der Ukraine. Seit 2014 hat sie für Kiew allerdings eine vollkommen neue Bedeutung: Nach der russischen Krim-Annexion und mit dem Beginn des Donbass-Krieges überholte die Landwirtschaft langsam, aber sicher die veraltete, vor allem auf Russland ausgerichtete Schwerindustrie im Südosten des Landes als wichtigster Wirtschaftssektor.

Das half damals, eine größere Krise zu vermeiden, denn die russische Invasion setzte der Ukraine als Industrieland nahezu ein Ende. Selbst wenn die Ukraine beispielsweise Mariupol befreien sollte, würde der Wiederaufbau des Asow-Stahlwerks, eines Branchenriesen, kaum mehr Sinn ergeben. Auch auf dem von Kiew kontrollierten Gebiet wurde ein großer Teil der wichtigen Betriebe zerstört.

Zukunft Agrarwirtschaft

Im Klartext bedeutet das: An der Zukunftsausrichtung der Ukraine als überwiegend agrar-orientiertes Land führt kein Weg vorbei. Doch auch in diesem Sektor sind die Kriegsfolgen extrem spürbar. Anlässlich der im März begonnenen Aussaatsaison ist vonseiten des Agrarministeriums bereits von einem noch schwereren Jahr als 2022 die Rede.

Wobei es trotz allem einen positiven Faktor gibt: Das Frühlingswetter kam diesmal so schnell, dass die Aussaatkampagne in vielen Regionen früher als je zuvor beginnen konnte. Die Größe der Anbauflächen wird daher, anders als vorausgesagt, wohl nur knapp hinter jener von 2022 bleiben. Komplett ignorieren lässt sich diese Differenz dennoch nicht.

Zudem sind sich die meisten Experten trotz des guten Wetters unsicher, ob die etwas nach oben korrigierten Prognosen tatsächlich so eintreffen werden. Im Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021 soll die prognostizierte Anbaufläche heuer jedenfalls um 6,8 Millionen Hektar kleiner sein. Das Hauptproblem für die Ukraine bleibt jedoch die Tatsache, dass rund 25 Prozent der Felder aufgrund der Folgen der Kampfhandlungen oder wegen der russischen Besatzung nicht bestellt werden können.

Minen auf den Feldern

Teile des agrartechnisch besonders wichtigen Bezirks Cherson sowie des Bezirks Charkiw wurden zwar befreit, mehr als eine Million Hektar Land bleibt dort jedoch vermint. Die Felder bei jenen Orten, wo die Frontlinie direkt verlief, sind nahezu komplett vermint. Etwas tiefer im Hinterland gibt es nach wie vor Hoffnung, vereinzelte Felder doch noch besäen zu können. Das Problem der Verminung wird die Ukraine allerdings noch lange verfolgen. Daher werden die Ukrainer wohl auch 2023, ebenso wie im Vorjahr, auf die legendären Wassermelonen aus der Region Cherson verzichten müssen. Direkte Kriegsfolgen sind dennoch weniger wichtig als indirekte, besonders wenn es darum geht, warum die Aussaat 2023 noch einen Tick komplizierter ist als im Vorjahr. Auch 2022 waren etwa hohe Preise für Dünger und Treibstoff sowie weitere zusätzliche Kosten alles andere als eine Randnotiz.

Seit Monaten hält jedoch zusätzlich der Trend an, dass die internationalen Getreidepreise zurückgehen, während die Logistik für Ausfuhren aus der Ukraine immer teurer wird. Der Transport einer Tonne Getreide kann bis zu 34 bis 35 Euro kosten. Das ist mehr als viermal so viel wie vor dem 24. Februar 2022. Logistische Schwierigkeiten sorgen dafür, dass sich für die Ukraine die Lage auf den Märkten verschlechtert, wo Kiew früher dominierte. So ist der Anteil der Ukraine beim Export von Sonnenblumenöl von 55 auf 35 Prozent gesunken - Hauptkonkurrent ist hier ausgerechnet Russland.

Im Endeffekt geht es für den ukrainischen Agrarsektor darum, wie groß der Rückgang beim Umfang der Ernte sein wird und zu welchem Preis man sie verkaufen kann. Dass auch die Ernte an sich im Vergleich zu 2022 zurückgeht, wird von niemandem bezweifelt, auch weil die Unternehmen aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage noch zusätzlich beim Dünger sparen müssen. Dieses Jahr könnte der Einsatz der Düngemittel im Vergleich zur Vorkriegszeit um bis zu 60 Prozent zurückgehen.

Getreide-Deal als Schlüssel

In der kaum prognostizierbaren Frage der Verkaufspreise spielt außerdem das Getreideabkommen, welches die Ausfuhr von Odessa aus über das Schwarzen Meer erlaubt, eine Schlüsselrolle. Kiew und Moskau haben hier unterschiedliche Auffassungen, ob es kürzlich für 60 oder für 120 Tage verlängert wurde. Aber nicht nur von der bloßen Verlängerung, sondern auch von der potenziellen Erweiterung der teilnehmenden Häfen hängt viel ab.

"Grundsätzlich sind wir in einer Situation, in der die Ausgaben um ein Vielfaches gestiegen sind, während die Einnahmen um 40 bis 50 Prozent kleiner geworden sind", fasst Roman Slasten, Generaldirektor des Ukrainischen Clubs der Agrarwirtschaft, zusammen. "Je länger der Krieg dauert, desto stärker treten wir in einen Zyklus ein, in dem die Hersteller jedes Jahr weniger Geld erhalten und dementsprechend weniger in die Produktion investieren können." Es müsse darauf geachtet werden, dass sich der Agrarbereich langfristig von der Lokomotive der Wirtschaft zu einer Art subventionierter Industrie verwandelt, meint er.