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Fliegen ohne Sicherheitsnetz

Von Ernst Trummer

Wirtschaft

Die russische Zivilluftfahrt befindet sich in schweren Turbulenzen. Durch die Sanktionen können westliche Flugzeugmodelle nicht mehr fachgerecht gewartet werden. Gleichzeitig verzögern sich heimische Ersatzprogramme.


Die russische Zivilluftfahrt, die Anfang Februar ihr hundertjähriges Bestehen feierte, war eine der ersten Branchen, die von den Sanktionen des Westens unmittelbar betroffen war. Nicht nur wurden nach dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sämtliche Flughäfen sowie der Luftraum der EU für in Russland registrierte Flugzeuge gesperrt. Die EU hat außerdem den Export von Waren und Know-how sowie Versicherungs- und Serviceleistungen nach Russland verboten. Die USA, Kanada und Großbritannien reagierten ähnlich restriktiv.

Wie sehr dieser Abkoppelungsprozess den gesamten russischen Luftfahrtsektor getroffen hat, wird mittlerweile immer deutlicher. So waren nach Einschätzung der russischen Verkehrsaufsichtsbehörde Rostransnadsor im vergangenen Jahr bei über 2000 Flügen, die mit westlichen Flugzeugtypen durchgeführt wurden, veraltete Komponenten im Einsatz. Dass der Mangel an Ersatzteilen und die Streckung von Service-Intervallen zum immer größeren Problem für die russische Luftfahrt werden, soll Rostransnadsor-Chef Viktor Basargin auch in einer nicht öffentlichen Sitzung des Verkehrsausschusses der Duma eingeräumt haben. Laut dem Moskauer Wirtschaftsblatt "Kommersant" sprach der Chef der Flugaufsichtsbehörde dabei von "zahlreichen Fällen von Regelverstößen, die sich direkt auf die Flugsicherheit auswirkten". Eine entsprechende Rückfrage der "Wiener Zeitung" bei Rostransnadsor mit der Bitte um Präzisierung wurde von der Behörde allerdings nicht beantwortet.

Dass ein modernes Fluggerät nicht nur wegen des Fehlens von Hightech-Komponenten seine Flugtauglichkeit verlieren kann, zeigte sich kürzlich an einem recht banalen Vorfall mit dem vielgepriesenen Superjet 100 des russischen Herstellers Sukhoi, der vorwiegend bei Regionalfluglinien im Einsatz ist. Im März berichteten russische Medien von Problemen mit den Motoren des SSJ100, der zu rund 70 Prozent aus Fremdentwicklungen und zugekauften Teilen aus dem Westen besteht. Grund waren fehlende Zündkerzen für das Triebwerk SaM146, einer Entwicklung des russisch-französischen Joint Ventures PowerJet. Wegen der Sanktionen waren diese Zündkerzen nicht mehr lieferbar, betroffen waren 160 Jets von insgesamt 12 Airlines. Bis Ende des laufenden Jahres soll nun eine russische Eigenentwicklung Abhilfe schaffen.

Kannibalisierung als Ausweg

Die Aeroflot hat laut eigenen Angaben ausschließlich Typen der Hersteller Airbus und Boeing in ihrer Flotte und ist mit 119 europäischen und 59 US-amerikanischen Jets Russlands größte Airline. Das Unternehmen verweist darauf, dass die Aeroflot-Gruppe, zu der auch die Fluggesellschaft Rossiya sowie der Billig-Carrier Pobeda gehören, "keine Flugzeugkomponenten mit abgelaufener Lebensdauer verwendet". Wie man dem akuten Ersatzteilmangel zu begegnen versucht, hat Pobeda aber bereits im letzten Frühjahr vorexerziert: So hat der Low-Cost-Carrier kurzerhand 16 seiner 41 Boeings in den Hangar gestellt und nutzt sie seitdem als Ersatzteilspender für die noch im Dienst befindlichen Maschinen.

Pobeda dürfte mit dieser Art der Ersatzteilbeschaffung wohl nicht allein bleiben. So hat es laut einem Bericht der Zeitung "Iswestija" bereits Ende Dezember einen Beschluss des Ministerrats gegeben, der die "Kannibalisierung von Flugzeugen" ausdrücklich erlaubt. Außerdem ist es den russischen Airlines seither freigestellt, Nachbauteile anstelle von Originalersatzteilen zu verwenden und die Serviceintervalle der Flugzeuge zu strecken.

Um die Ersatzteilproblematik in den Griff zu bekommen schickt der Branchenprimus Aeroflot seine Flugzeuge mittlerweile auch schon zu Instandhaltung in den Iran, der wie kaum ein anderes Land Erfahrungen im Umgang mit Wirtschaftssanktionen hat. Laut dem Moskauer Wirtschaftsnachrichtendienst RBC wurde im April erstmals eine A330-300 zum Service nach Teheran überstellt. RBC zufolge hat zuvor aber bereits der Regionalcarrier UVT Aero aus dem zentralrussischen Tatarstan einen seiner Bombardier CRJ200-Jets bei den Ingenieuren von Mahan Air in Teheran servicieren lassen. Auch das Triebwerk einer Maschine der Aeroflot-Tochter Rossiya soll bereits zur Wartung in die iranische Hauptstadt geschickt worden sein.

Die Verwendung von veralteten Ersatzteilen oder Nachbauteilen durch russische Airlines sowie die Wartung von deren Flugzeugen im Iran wollte Airbus gegenüber der "Wiener Zeitung" nicht kommentieren. Laut Stefan Schaffrath, Konzernsprecher für den Bereich Commercial Aircraft, führt Airbus bei allen Parteien, die Ersatzteile und technische Unterlagen anfordern, aber eine Due-Diligence-Prüfung durch und verpflichtet die Abnehmer zur Abgabe verbindlicher Endnutzer-Erklärungen. Darüber hinaus habe man jedoch keine Möglichkeit, die Verwendung von Nachbauteilen und die Erbringung von Dienstleistungen durch Dritte zu kontrollieren, erklärt Schaffrath.

Völlige Autarkie als Ziel

Schon lange vor dem Krieg hat die russische Regierung versucht, ihre Wirtschaft durch ein spezielles Importersatz-Programm autarker zu machen. Mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 wurde diese Bemühungen dann noch einmal verstärkt, die Betriebe sollten lernen, sich von ausländischen Lieferanten unabhängig zu machen. Derzeit forciert die staatliche Holding Rostec, unter deren Dach die wichtigsten Unternehmen in den Sektoren Luftfahrt, Maschinenbau, Elektronik und Rüstung im Jahr 2007 zusammengeschlossen wurden, ihr Vorzeigeprojekt SSJ NEW, eine Weiterentwicklung der Sukhoi SSJ100. Der neue Flugzeugtyp soll - fast - zur Gänze ohne Komponenten aus dem Ausland auskommen, Rostec-Chef Sergej Tschemesow nannte eine angestrebte Importersatzquote von 97 Prozent.

Herzstück des überarbeiteten Sukhoi-Jets ist dabei das neuentwickelte Triebwerk PD-8 des russischen Motorenbauers ODK, der bisher den russischen Partner im Joint Venture PowerJet mit der französischen Safran-Gruppe stellte. Das PD-14, eine größere Version des PD-8, ist bereits Anfang April in Serienproduktion gegangenen. Die Turbine soll in den ebenfalls neu entwickelten Maschinen des Typs MS-21 des Flugzeugbauers Irkut zum Einsatz kommen, der als Konkurrent der Mittelstrecken-Platzhirsche Boeing 737 und der Airbus A320/321-Familie konzipiert wurde.

Ständige Ankündigungen

Bis 2030 sollen laut Rostec jährlich 160 PD-14-Triebwerke die Montagehallen in Perm, Europas östlichster Millionenstadt im Ural-Vorland, verlassen. Bis dahin sollte es dann auch mit der Serienproduktion der MS-21 klappen. Deren Auslieferung wurde in den vergangenen Jahren mehrfach verschoben, laut jüngstem Fahrplan sollen die ersten sechs Maschinen nun im nächsten Jahr abheben. Für 2024 ist auch die Indienststellung der ersten 20 SSJ-NEW vorgesehen - wenn alles nach Plan läuft. Russische Branchenkenner, die das Wirtschaftsblatt "Kommersant" unter Wahrung der Anonymität zitiert, befürchten aber, dass auch diesmal von den ständigen Ankündigungen nicht viel übrig bleibt - und die SSJ-NEW wie auch die MS-21 vorerst nicht viel mehr als Papierflieger sind.