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Evolution statt Revolution am Strommarkt

Von Julian Kern

Wirtschaft

Im November soll das EU-Parlament über Änderungen des europäischen Strommarktdesigns abstimmen.


Arbeitspreis, Grundpreis, Netznutzungsentgelt, Umsatzsteuer oder die Elektrizitätsabgabe: Viele Verbraucher haben sich die Bestandteile ihrer Stromrechnung in den vergangenen zwei Jahren zum ersten Mal genauer angesehen. Und das nicht ohne Grund, denn bereits vor Beginn des Krieges in der Ukraine sowie im Zuge dessen, ist der Gaspreis am Weltmarkt angestiegen - und damit auch die Preise für Strom hierzulande. Grund dafür ist die Merit-Order und die hätte, wenn es nach europäischen Spitzenpolitikern geht, eigentlich umfassend überarbeitet werden sollen. Mit Blick auf den Vorschlag der Europäischen Kommission, über den im November im Europäischen Parlament abgestimmt werden soll, wird jedoch klar, dass am grundlegenden System der Merit-Order nicht gerüttelt wird.

Ausgehend vom günstigsten Kraftwerk werden weitere Kraftwerke der Reihe nach zugeschaltet, bis der entsprechende Strombedarf gedeckt ist. Das letzte und somit teuerste Kraftwerk bestimmt den Einheitspreis, zu dem der erzeugte Strom anschließend gehandelt wird. Oft hat das zur Folge, dass Strom aus erneuerbarer Produktion zum selben Preis wie jener aus klimaschädlicher Produktion verkauft wird und Strom, der zum Großteil günstig produziert wird, teuer verkauft wird. Das veranlasste die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, im August des Vorjahres eine "Strukturreform des Strommarktes" anzukündigen.

Eine solche forderte am Dienstag auch die Umweltorganisation Attac Österreich gemeinsam mit anderen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) sowie dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (ÖGB). Gemeinsam plädieren sie für eine leistbare Grundversorgung der Menschen mit Strom, wie es sie aufgrund der Strompreisbremse aktuell auch für eine Menge von 2.900 Kilowattstunden (kWh) pro Haushalt zum Preis von zehn Cent netto pro kWh gibt. Zudem fordern sie ein Ende für Energiegeschäfte an der Börse und plädieren dafür, Energieversorgung öffentlich und nicht gewinnorientiert zu organisieren. Auch die aufgrund der menschengemachten Erderhitzung notwendige Energiewende könne man mit dem aktuellen System nicht bewältigen, kritisiert Max Hollweg von Attac Österreich. "Märkte sorgen weder für eine leistbare Grundversorgung, noch bringen sie die Energiewende voran", kritisiert Attac-Energieexperte Max Hollweg bei einer Pressekonferenz mit ÖGB-Chefökonomin Helene Schuberth und dem Ökonomen Stephan Schulmeister.

Marktdesign kein Turbo bei der Energiewende

Auf die generelle Geschwindigkeit des Umbaus auf ein erneuerbares Energiesystem habe das Strommarktdesign jedoch nur begrenzte Auswirkungen, meint der deutsche Strommarktexperte Christoph Maurer vom Energieberatungsunternehmen Consentec, der unter anderem den Deutschen Bundestag und die deutsche Bundesregierung berät. "Hier geht es eher darum, dass man das Marktdesign als einen Baustein optimiert, um die gesamte Transformation sozial verträglich zu gestalten. Die eigentlichen Beschleuniger der Energiewende kommen meiner Meinung nach aus dem "Fit for 55"-Paket, aus der Verschärfung des Emissionshandels und der Einführung des Emissionshandels für Gebäude und Verkehr", sagt Maurer zur "Wiener Zeitung".

Dass die Kommission entgegen den ursprünglichen Plänen doch an der Merit-Order festgehalten hat, überrascht den Strommarktexperten nicht: "In der EU-Debatte hat sich die Diskussion weiterentwickelt und Gespräche mit vielen Fachleuten haben gezeigt, dass der kurzfristige Preisbildungsmechanismus auch zur Stabilisierung der Energiekrise beigetragen hat, weil er sinnvolle Einsparanreize enthält und weil er auch dafür gesorgt hat, dass Energie dort zur Verfügung stand, wo sie besonders knapp war." Merkmale, die laut dem Experten erhalten und nun künftig mit besseren Absicherungselementen kombiniert werden sollen.

So soll es künftig die Möglichkeit auf längerfristige Versorgungsverträge geben, aber auch umfassendere Verpflichtungen der Versorger gegenüber ihren Kunden. "Wenn die Energieversorger ihre Positionen gegenüber ihrer Kunden durch Langfristverträge absichern müssen, dann kann das dafür sorgen, dass schwarze Schafe - die interessante Verträge anbieten, solang die Großmarktpreise fallen und pleitegehen, sobald diese wieder steigen - auf der Anbieterseite aussortiert werden", sagt Maurer.

Stromproduktion der Privathaushalte wird forciert

Zudem möchte die Europäische Kommission einen stärkeren Schwerpunkt auf die Nutzung erneuerbarer Energie aus eigener Produktion setzen - ohne, dass zuvor Energiegemeinschaften gegründet werden müssen. "Das kann die Nutzung kostengünstiger erneuerbarer Energien verbessern und Verbrauchern, die keinen Zugang dazu hätten, einen besseren Zugang zur direkten Nutzung erneuerbarer Energie geben", findet sich dazu in einem Papier des Europäischen Parlaments. "Ein vierter Punkt betrifft einen Preiseingriffsmechanismus in Endkundenpreise für künftige Krisensituationen. Das, was im letzten Jahr über Notfallverordnungen organisiert wurde, soll hier quasi institutionalisiert werden", sagt der Strommarktexperte Maurer.

In weiterer Folge gehe es im Vorschlag der Kommission auch darum, Strom aus erneuerbarer Energieproduktion zu speichern. Denn anders als bei Gaskraftwerken, die bei Bedarf auch in der Nacht hinzugeschaltet werden können, ist dies bei PV-Anlagen nicht möglich. "Mit dem Zubau der Photovoltaik wird der Speicherbedarf in den nächsten zehn Jahren sehr deutlich ansteigen. Ich glaube aber, dass die Anreize für den Speicherausbau durch die Schwankungen des Strompreises zwischen Situationen mit Photovoltaik und wenig Photovoltaik entstehen werden", meint der Energieexperte.