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Europa hinkt den USA hinterher

Von Hermann Sileitsch

Wirtschaft

Finanzsektor mit stärkstem Wachstum - nicht jeder Fortschritt wünschenswert.


Brüssel. Was, wenn die Krise nie stattgefunden hätte? Dann wäre die Wirtschaftsleistung (BIP) der EU um 2000 Milliarden Euro höher: Dieser Betrag, der etwa dem französischen BIP entspricht, ist zwischen 2007 und 2010 verloren gegangen, rechnete Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso beim Europäischen Rat am Sonntag vor. Die Krise ist allerdings nicht alleine dafür verantwortlich, dass Europas Wachstum hinter den Möglichkeiten bleibt.

Die EU ist vom Ziel, der schlagkräftigste Wirtschaftsraum zu werden, weit entfernt. Bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf und den geleisteten Arbeitsstunden liegt Europa klar hinter den USA zurück. Dort wird effizienter gearbeitet. Bei der Produktivität je Arbeitsstunde ist die EU seit 2000 sogar zurückgefallen (Grafik).

"Es ist zwar die einzige echte Benchmark für Europa, dennoch ist der Vergleich mit den USA schwierig", so Wifo-Experte Werner Hölzl zur "Wiener Zeitung". Erstens sei die EU ein höchst heterogener Wirtschaftsraum. Zweitens hätten die USA den Vorteil des einheitlichen Sprachraumes. Und drittens sei nicht alles, was mehr Produktivität bringt, nachahmenswert. So hätten die USA mit massivem Outsourcing zwar ihre Produktivität gesteigert, damit aber ihre industrielle Basis ausgedünnt. Es sind nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Fertigungs-Know-how verloren gegangen. In der Krise haben die USA ihre Produktivität sogar verbessert - weil die Unternehmen rascher gekündigt haben als in Europa, wo die Arbeiter unter anderem mit Kurzarbeitsregeln in Beschäftigung gehalten wurden. "Wenn ich ein eingespieltes Team von Fachkräften habe, werde ich mich hüten, diese zu kündigen - es sei denn, ich erwarte fünf Jahre Schlechtwetter. Die Kosten, dieses Know-how wiederzuerlangen, sind viel höher", so Hölzl. Oder ein Beispiel aus dem Einzelhandel: "US-Supermärkte an der Stadtperipherie sind sicher produktiver als Österreichs Nahversorger. Dennoch würde ich nicht die Innenstädte planieren."

Ein Konzept bis Dezember

Barroso kritisiert, dass in Europa Firmengründungen zu teuer sind und zu lange dauern. Auch teure Patente, zu wenig Forschung und geringe Nutzung des Online-Handels seien Hindernisse. Mit Strukturreformen ließe sich das Wachstum bis 2020 von 1,6 auf 2,2 Prozent anheben, so Barroso, der für den Dezember-Gipfel Vorschläge ankündigte - von der verbesserten Nutzung des Binnenmarktes über die "digitale Agenda" bis hin zur Unterstützung der Klein- und Mittelbetriebe mit Risikokapital und "intelligenter Regulierung."

In Europa wurden seit 1995 rund 23 Millionen Arbeitsplätze geschaffen - vor allem im Dienstleistungsbereich. Am stärksten war der Zuwachs just bei Unternehmens- und Finanzdienstleistungen. "Ist der Finanzsektor zu groß oder zu klein: Darüber kann man streiten", so Hölzl. Er gibt zu bedenken, dass in die Rubrik auch ausgelagerte Dienstleistungen fallen - etwa, wenn ein Unternehmen statt seiner Werbeabteilung eine Agentur beauftragt.