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Die Wirtschaftsbosse sollen den Kapitalismus zähmen

Von WZ-Korrespondent Urs Fitze

Wirtschaft

Weltwirtschaftsforum: Wachsende soziale Ungleichheit ist gefährlich.


Davos. Die wachsende soziale Ungleichheit ist das größte Risiko für die Welt, noch vor den Staatsschulden und dem Klimawandel. Das jedenfalls meinen die Organisatoren des Weltwirtschaftsforums in Davos, des Jahrestreffens der globalen Wirtschaftselite.

Aus dem Herzen des Kapitalismus kommen fast revolutionäre Töne. "Wir waren in den vergangenen drei Jahren fast ausschließlich mit der Bewältigung von politischen, wirtschaftlichen und ganz besonders finanziellen Krisen beschäftigt. Das hat uns den Blick versperrt auf den grundlegenden Wandel in der Welt", schreibt Klaus Schwab in einem Beitrag auf der Internetseite des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos. Der Gründer und Präsident des WEF holt seit vier Jahrzehnten die Mächtigen in Wirtschaft und Politik nach Davos. Am kommenden Mittwoch beginnt in dem Schweizer Kurort das 42. Jahrestreffen. Nun wird der 73-jährige Wirtschaftsprofessor ungeduldig: "Wir kommen angesichts der riesigen Herausforderungen dieses Wandels mit unseren bisherigen Methoden nicht mehr weiter und müssen neue Wege gehen."

Die Wirtschaft brauchtden Mittelstand

Schwab war noch nie verlegen um große Worte. "Neue Modelle" sollen in Davos ausgetüftelt werden, um dem "großen Wandel" gerecht zu werden, der der Welt - um es mit den Worten von Kevin Kelly, dem Direktor der weltweit tätigen Unternehmensberatung Heidrick & Struggles, auszudrücken - "ein asiatisches Jahrhundert" beschert. Das ist nun nichts Neues, gerade beim WEF, wo das Thema seit Jahren diskutiert wird. Doch die Geschäftsleute sind Pragmatiker: Sie sehen vor allem Chancen, sprechen vom rasant wachsenden Mittelstand in aufstrebenden Schwellenländern, dessen Bedürfnisse sie mit ihren Produkten befriedigen wollen.

Die Autoren des vom WEF herausgegebenen "Globalen Risiko-Berichtes 2012" legen den Fokus auf die Folgen dieser Entwicklung, die auch in einst egalitär ausgerichteten Schwellenländern wie China großen sozialen Sprengstoff birgt. Sie sehen in der wachsenden ungleichen Verteilung der Einkommen die aktuell größte Gefahr für die Welt, noch vor den in Schieflage geratenen Staatshaushalten und den ungebremst steigenden Treibhausgasemissionen. Tatsächlich wächst die Ungleichheit weltweit. Der von der UNO-Organisation Habitat erhobene, die Ungleichheit messende Gini-Index ist heute für die USA und China praktisch auf demselben tiefen Niveau. In Europa lasse sich eine ähnliche Tendenz beobachten, sagt Edoardo Lopez Moreno, Leiter der Abteilung Global Urban Observatory bei der UN-Organisation Habitat in Nairobi.

Auch gebildete Schichten sind unzufrieden

Diese Entwicklung berge großen sozialen Sprengstoff, weil Migranten und ethnische Minderheiten besonders betroffen seien, sagt Moreno. Denn da gehe es nicht mehr nur um absolute Zahlen, sondern um "die Wahrnehmung der Ungleichheit". Die Revolution in Tunesien und Ägypten, deren große Städte eine für Entwicklungsländer vergleichsweise gute Lebensqualität bieten, sei wesentlich von gebildeten Schichten getragen worden, die praktisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen gewesen seien.

Weder Chinas exportorientierter Staatskapitalismus noch Westeuropas Soziale Marktwirtschaft oder der angelsächsische Ultra-Liberalismus haben eine solche Entwicklung zu immer mehr Ungleichheit verhindern können. Im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit, die auch in weiten Teilen Europas wieder steigt, verstärkt das Gefühl der Unsicherheit breiter Kreise. Tatsächlich ist die Schaffung von Arbeitsplätzen weltweit eine der ganz großen Herausforderungen der Stunde.

"Die Weltwirtschaft wächst langsamer, die Produktivitätsfortschritte sind nach wie vor groß, und die Arbeitslosigkeit steigt ins Unermessliche", schreibt Schwab, "hunderte Millionen junger Menschen werden im nächsten Jahrzehnt das Heer der Arbeitssuchenden noch vergrößern." Mit Kapital, der Triebfeder jedes konventionellen kapitalistischen Handelns, lasse sich diese Herausforderung nicht mehr meistern. "Wer als Land oder als Unternehmen unter diesen Voraussetzungen in Zukunft konkurrenzfähig bleiben will, braucht nicht mehr in erster Linie Kapital, sondern gut ausgebildet Talente."

Auch steigende Nahrungsmittelpreise machen den armen Schichten weltweit zu schaffen. Die Zahl der Menschen, die unter Hunger leiden, liegt heute bei knapp einer Milliarde und damit um 150 Millionen höher als vor 20 Jahren.

Wohl der Gesellschaft statt Interessen der Aktionäre

Die Folgen der Ernährungskrise rangieren im WEF-Risiko-Bericht an dritter Stelle, wenn es um die Bewertung der Auswirkungen geht. Nur die systembedingten Risiken der Finanzwirtschaft und die zunehmende Trinkwasserknappheit werden noch stärker eingestuft. Antworten auf diese existenziellen Fragen sind, abgesehen von Lippenbekenntnissen, nicht in Sicht.

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Das diesjährige Weltwirtschaftsforum in Davos findet vom 25. bis 29. Jänner 2012 statt. Mit 2600 Teilnehmern verbucht das 42. Treffen eine Rekordbeteiligung. 40 Staats- und Regierungschefs, 1600 Unternehmer sowie Minister aus 19 der G20-Staaten kommen in die Schweiz. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hält zur Eröffnungsrede. Alle G8-Staaten schicken ihre Finanzminister. Österreich wird durch Außenminister Michael Spindelegger vertreten.

Als größte Schatten liegen die Staatsschuldenkrisen in Europa und den USA über dem Treffen. Mit Spannung erwartet werden deshalb IWF-Chefin Christine Lagarde, Weltbank-Präsident Robert Zoellick, EZB-Chef Mario Draghi, US-Finanzminister Timothy Geithner und der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble.

Weltwirtschaftsforum in Davos