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Wer nicht für uns ist, muss ein Kommunist sein

Von Konstanze Walther

Wirtschaft

Kapitalismuskritische Theorien docken langsam im Mainstream an.


Wien. Bankenrettungspakete bei steigender Arbeitslosigkeit. Steuerliche Anreize für den Kauf eines Neuwagens. Boni für Banker. Davon, dass die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen wirtschaftlichen System wächst, zeugt unter anderem die weltweite Occupy-Bewegung, die sich aus den verschiedensten Schichten zusammen setzt. Und doch: Kritik am gegenwärtigen System der - je nach Sprachregelung und Standpunkt - Marktwirtschaft oder des Kapitalismus wird gern im Keim erstickt. "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Das Totschlagargument des Kommunismus wird den Theoretikern und Praktikern, die Wege abseits des Systems suchen, gerne zwischen die Beine geworfen.

Theorien, wie das wirtschaftliche System auf neue Beine gestellt werden kann, gibt es wie Sand am Meer. Viele ähneln sich auf den ersten Blick, erst bei Details (etwa ob Geld alleine wieder Geld schaffen darf - also Zinsen abwerfen) gehen sie auseinander.

Club of Rome in den 70ern

Eine der bekanntesten Theorien, unter der viele Spielarten der Alternativen zusammenlaufen, ist die Postwachstumstheorie. Ihren Ursprung nahm sie 1972, als das Buch "Die Grenzen des Wachstums" veröffentlicht wurde. Die Studie - mittlerweile ein Dauer-Bestseller - war ein Auftragswerk für den Club of Rome, der vier Jahre zuvor von dem italienischen Industriellen Aurelio Peccei, damals im Vorstand von Fiat, mitbegründet worden war. (Und Peccei war kein Kommunist, obwohl er als Mitglied antifaschistischer Partisanen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs im Gefängnis war.) Die "Grenzen des Wachstums" stellte erstmals die Währung des gegenwärtigen Systems in Frage: das Wachstum. Und zwar Wachstum gemessen am Bruttoinlandsprodukt, den Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr in einem Land produziert werden müssen - und die stets das Vorjahresergebnis toppen sollten. Denn die Ausweitung der Produktion dient der Ausweitung der Arbeitsplätze, dient der Ausweitung des Wohlstands, dient der Ausweitung der Kaufkraft - welche die Produktion wieder ankurbelt.

Wachstumszenit ist erreicht

Das funktioniert vor allem in Gesellschaften, die sich im wirtschaftlichen Entwicklungsstadium befinden - wie in den USA und in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (einer Zeit, in der das Bevölkerungswachstum auch zugenommen hat), oder im ehemaligen Ostblock nach dem Fall der Mauer. In gesättigten Gesellschaften wird es schon schwieriger, ständig hohe Wachstumsraten zu erzeugen. Manchmal sogar unmöglich, wie die Wirtschaftskrise gezeigt hat. Auch in den "neuen" EU-Staaten verflacht langsam die Wachstumskurve. Die Theorie des Postwachstums versucht, ein Wirtschaftsmodell nach dem Zenit der Sättigung zu finden und warnt vor Maßnahmen, das Wachstum um jeden Preis beizubehalten. Denn die Kosten trägt zwar vielleicht auch der Steuerzahler, aber primär die Umwelt. Der profilierteste (nicht-marxistische) Wachstumskritiker ist der Schweizer Volkswirtschaftsprofessor Hans-Christian Binswanger. Er war in Sankt Gallen auch Doktorvater von Josef Ackermann - der scheidende Vorstandsvorsitzende der Deutsche Bank ist ebenfalls noch nie unter Kommunismus-Verdacht geraten.

Öko-Steuermodell in 80ern

Binswanger entwickelte in den 1980er Jahren das "Ökologische Steuermodell" - das knappe Gut fossiler Energie sollte empfindlich besteuert werden und so die soziale Sicherung finanzieren. Grundgedanke dabei ist nicht nur die Verknappung der fossilen Energien, sondern auch die Gesundheitskosten (etwa durch Atemwegserkrankungen), die der Verbrauch fossiler Energien bedingt. Irmi Seidl, Schweizer Ökonomin und ehemalige Binswanger-Mitarbeiterin formuliert es im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" so: "Mit Wirtschaftswachstum sind Umweltkosten verbunden. In Deutschland beispielsweise fallen 20 Prozent des Wirtschaftswachstums als Umwelt- und Sozialkosten an. Die Luft und die Seen werden verschmutzt, Gesundheitsbeeinträchtigungen sind die Folge." Wesentlicher Ausgangspunkt der Postwachstumsgesellschaft ist daher, dass es zwischen Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch noch nie zu einer ganzen Entkoppelung gekommen ist. Selbst wenn man sich bemüht, meint Seidl: "Der Rebound-Effekt besagt, dass wir, wenn wir bei Ressource A sparen, verwenden wir dafür mehr von der Ressource B. Also, wenn Leute Sparlampen kaufen, lassen sie dafür das Licht länger brennen. Das Potenzial wird nicht ausgeschöpft. Das heißt, um das Umweltproblem in den Griff zu bekommen, reichen Effizienzmaßnahmen nicht aus. Vielmehr müssen wir uns die Tatsache ansehen, dass mit Wirtschaftswachstum Ressourcenverbrauch zusammenhängt. Wir leben in einer Welt, die begrenzt ist."

Dazu komme, dass selbst durch die Konjunkturförderungsprogramme und das Geld, das der Staat dafür in die Hand genommen hat, das Wachstum nicht angesprungen ist. In der Postwachstumstheorie darf es zwar "konventionelles" Wachstum geben, aber Unternehmen und Branchen dürfen auch schrumpfen.

Aufregung in Alpbach

Als die Ökonomin Seidl im Sommer 2011 am Wirtschaftsforum Alpbach ihr Impulsreferat hielt, bildete sich im Saal und am Podium beinahe ein entrüsteter Mob. "Gehen’s einmal nach Moldawien und schaun’s, wie sich die dort alle zehn Finger nach Wachstum abschlecken", empfahl eine hochrangige österreichische Politikerin im gereizten Ton - außer Acht lassend, dass Moldawien als Transitionsland nicht in die Kategorie der gesättigten Industrienationen fällt. Aber auch ein Vertreter eines renommierten Wirtschaftsforschungsinstituts beschied Seidl, das sie ihre Ideen doch selber nicht ernst nehmen könnte. Diese seien nämlich verantwortungslos - denn wo sollen die Arbeitsplätze herkommen, wenn nicht über Wachstum. Seinem Tonfall nach zu urteilen, war es fast so, als klebte Blut auf den Händen der Umweltökonomin.

EU-Studie im April 2012

Die Postwachstum-Theorie, genauso wie ihr Schwester-Modell, die ökologische Ökonomie, fristeten also bisher ein Ghetto-Dasein. Doch jetzt haben sie Verstärkung bekommen. "Es ist an der Zeit, die bio-physischen Grenzen der Welt ernst zu nehmen", formuliert es die Umweltökonomin Sigrid Stagl, Professorin an der Wiener Wirtschaftsuniversität (WU). "Mir persönlich wäre es auch lieber, wenn wir weiter wachsen würden. Aber für Hochkonsumländer geht es sich nicht mehr aus. Wir müssen noch Luft für die Entwicklungsländer lassen." Denn das Wachstum hat immer auch Auswirkungen auf die Umwelt, die aber die Basis für die Wirtschaft darstellt.

Die Politik habe bisher nur Ratschläge aus der traditionellen Makroökonomie empfangen, meint Stagl, während die Kassandrarufer der ökologischen Ökonomie normalerweise nicht als Grundlage herangezogen worden sind. Das soll sich nun ändern: Diese Woche wird, in Zusammenarbeit von Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo und WU, ein neues EU-Forschungsprojekt vorgestellt. Ab April soll - eingebettet in die EU 20-20-Ziele (für nachhaltige Wirtschaftsentwicklung) - vier Jahre lang von Ökonomen aus ganz Europa ein neues sozio-ökologisches Wachstumsmodell für Europa erarbeiten werden. Dabei werden laut Stagl "viele Denkschulen zusammengebracht", Ökonomen aus jeder Richtung - Makroökonomie, Postwachstum, Umweltökonomie - werden EU-weit einander zuarbeiten. Im Kern geht es darum, wie man das bisherige Modell der europäischen Marktwirtschaft umbauen kann. "Denn Pensionssystem, Sozialsystem, Arbeitsmarkt-Parameter, alles ist bisher noch auf Wachstum ausgerichtet."

Gemeinwohl statt Gewinn

Zwei oder mehrere Schritte weiter geht die sogenannte Gemeinwohlökonomie, die von der NGO Attac entwickelt wurde und Gegenstand des gleichnamigen Buchs von Attac-Österreich-Mitbegründer Christian Felber ist. Auch er bedient sich verschiedener Schulen und fordert eine Abkehr vom "Zwang zum Wachstum". Damit einhergehend solle das System ökologisch und sozial umgebaut werden. Felber fängt auf der Mikro-Ebene an: Ob ein Unternehmen erfolgreich ist, sollte nicht mehr (primär) an monetären Faktoren festgemacht werden. Der Staat sollte seinen rechtlichen Rahmen so umpolen, um jene Unternehmen zu fördern, die ihr Gut fair, human, sozial und ökologisch produzieren. Niederschlag findet das in der "Gemeinwohl-Bilanz", die Finanzbilanz ist nur noch sekundär. "Neues Ziel aller Unternehmen ist es, einen größtmöglichen Beitrag zum allgemeinen Wohl zu leisten", schreibt Felber. Er betont allerdings, dass es kein fertiges Konzept ist, und man für Vorschläge offen ist. Auch wenn der Buchautor sich immer wieder den Vorwurf des Kommunismus anhören muss, propagiert er nach eigenen Angaben die Marktwirtschaft - "wenn auch eine kooperative und keine kapitalistische". Gewinne werden differenziert betrachtet: Akkumulationen um des Geldes willen werden nicht gerne gesehen. Überschüsse, die zur Schaffung von sozialem und ökologischem Mehrwert verwendet werden, hingegen schon.