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China therapiert die Welt

Von Peter Muzik

Wirtschaft
Auf die Heilkraft der Kräuter vertrauen nicht nur die Chinesen.
© © Elenathewise - Fotolia

Die Volksrepublik pusht Kräuter-Pillen, stößt dabei aber noch auf viele Hürden.


Für Touristen, die Chinas Hauptstadt Peking besuchen, ist es so gut wie obligatorisch: Nach dem Sightseeing in der Verbotenen Stadt, einem Ausflug zur Großen Mauer, dem Halt bei einer Seidenfabrik und Besuch einer Perlenzucht landen sie fast automatisch in einem TCM-Institut. Ganze Autobus-Ladungen werden im Stundentakt etwa in der Xi Ba He Road Nummer vier abgeliefert. Europäische, amerikanische oder australische "Langnasen", für viele der 1,3 Milliarden Chinesen immer noch eine Attraktion, erhalten dort blitzartig kostenlose Fußmassagen, die mit dem Auftritt eines chinesischen Doktors kombiniert werden.

Er preist in der gewünschten Sprache, unterstützt von bunten Tafeln, die mannigfachen Vorzüge der Traditionellen Chinesischen Medizin (kurz: TCM) und überlässt sodann einem Rudel herbeieilender Ärzte das Feld. Diese begutachten herausgestreckte Zungen, um umgehend Nierenprobleme zu konstatieren oder per Druck auf den linken Unterschenkel vor Diabetes zu warnen - natürlich alles gratis. Die Mediziner legen den verdatterten Touristen abschließend den Erwerb diverser Medikamente nahe, die Niere, Wirbelsäule, Blutdruck, Verdauung oder Libido innerhalb von drei Monaten wieder ins Lot bringen sollen.

Ginseng bringt mehr Devisen

Die in Plastikdosen abgefüllten bunten Kräuterkapseln und schwarzen Globuli werden eilig herbeigeschafft und ihre stolzen Preise von hübschen Assistentinnen via Kreditkarten verrechnet. Da kann es passieren, dass manche Gäste für ihre Drei-Monatsvorräte einige hundert bis mehr als tausend Euro investieren. Denn wer an der Heilkraft der klassischen westlichen Schulmedizin Zweifel hat - und die können angesichts der ärztlichen Überzeugungskraft in China prompt auftauchen -, der schwört plötzlich auf die Balance von Yin und Yang und entdeckt den Stellenwert, den die Elemente Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde künftig in seinem Leben haben.

Die Volksrepublik wäre nicht die Volksrepublik, würde sie die zumindest zwei Jahrtausende alte alternative Medizin, die zweifellos ein markanter Bestandteil der Landeskultur ist, nicht - spät, aber doch - zum weltweiten Exporthit machen wollen. Im Vorjahr erzielte die Branche ein Handelsvolumen von rund 72 Milliarden Dollar, was gegenüber 2011 ein Plus von 40 Prozent bedeutete. In erster Linie war das stärkerer Nachfrage am Heimmarkt zu verdanken. Im Ausland setzten chinesische Konzerne mit ihren bisweilen belächelten TCM-Präparaten erst 2,3 Milliarden Dollar um - dank des starken Yuan-Kurses ein Zuwachs von 36 Prozent.

Alles in allem (das Spektrum reicht von harmlosen Nahrungsergänzungsmitteln über Pflanzenextrakte bis zu Kosmetika auf Kräuterbasis) verkaufte China einschlägige Produkte schon im Wert von 30 Milliarden Dollar. Immerhin haben Akupunktur, fernöstliche Bewegungstechniken wie Qigong und Tai Chi (auch Tàijí), die Geist und Körper harmonisieren sollen, oder Massagetechniken wie Tuina in mittlerweile 160 Ländern Abermillionen Anhänger gefunden.

Der Führung in Peking reicht das nicht: Erst kürzlich rief Gesundheitsminister Chen Zu, als einer der wenigen Politiker nicht Mitglied der Kommunistischen Partei, in Kooperation mit 14 weiteren Regierungsstellen zu einer großen Offensive auf. Oberstes Ziel ist, TCM in aller Welt populär zu machen - etwa über die bereits 350 Konfuzius-Institute und durch Kooperationen der 20 chinesischen TCM-Universitäten mit Gleichgesinnten im Ausland. Dank der beflügelnden Wirkung von vermeintlichen Wunderkreszenzen aus Ginseng, Yams-Wurzel, Gingko oder chinesischen Raupenpilzen sollen dem Land mehr Devisen verschafft werden.

Die Regierung hat im letzten Jahr umgerechnet fast eine Milliarde Dollar lockergemacht, um dem Volk und den Touristen die 2800 TCM-Spitäler ans Herz zu legen. In Kürze sollen 70 weitere Spezial-Anstalten errichtet werden.

Bereits in den vergangenen drei Jahren hatte Peking die dreifache Summe in die wild wuchernde TCM-Industrie gesteckt, die naturgemäß auch viel Schund auf den Markt wirft. Gemäß Fünf-Jahres-Plan des KP-Regimes muss sie künftig die Forschung verstärken, die qualitativen Anforderungen besser einhalten und die Standards für rund 300 verwendete Ingredienzen vereinheitlichen. Die Regierung, die unter anderem 16 staatliche TCM-Forschungszentren unterstützt, strebt obendrein eine Konsolidierung der Pharmabranche an: 2015 soll es maximal drei Großkonzerne wie die staatliche Sinopharm mit Umsätzen von je weit mehr als 100 Milliarden Yuan (rund 13 Milliarden Dollar) geben, weiters 20 kleinere Betriebe, die etwa ein Zehntel davon umsetzen.

Globale Offensive gestartet

Die Branche, die in drei Jahren schon 150 Milliarden Dollar schaffen möchte, beschäftigt derzeit eine halbe Million qualifizierte TCM-Spezialisten und braucht in den nächsten Jahren noch einmal so viele, die allerdings auch Fremdsprachen beherrschen sollten. Der starke asiatische Heimmarkt wird weiterhin die Hauptstütze sein. Immerhin setzen rund 60 Prozent der Bevölkerung in China, aber auch in Japan, Taiwan, Südkorea und Singapur auf die traditionellen asiatischen Behandlungsmethoden. Das Business im Ausland soll aber massiv ausgebaut werden. Bereits jetzt sind die Zuwachsraten, insbesonders in Schwellenländern, beeindruckend: Im Vorjahr nahmen Chinas TCM-Exporte nach Indien und Südafrika etwa um ein Drittel zu, jene nach Brasilien und Russland sogar um beinahe die Hälfte.

Die Tongrentang Group in Peking, Chinas führender TCM-Hersteller und bekannteste Marke, betreibt im Reich der Mitte 1200 Drugstores und setzt mit Kräuter-Nahrungsergänzungsmitteln 5,6 Milliarden Yuan um, umgerechnet etwa 900 Millionen Dollar. In den kommenden zwei Jahren will sie 500 Shops eröffnen und ihren Umsatz locker verdoppeln. Im Ausland hat es die vor 350 Jahren gegründete Firmengruppe bis dato auf 64 Dependancen in 16 Ländern gebracht, wobei das Umsatzplus zuletzt 55 Prozent betrug. Ihr erster arabischer Shop wurde eben in Dubai in einem pompösen medizinischen Zentrum eröffnet. Dort werden nicht nur Pillen "Made in China" verkauft, sondern auch Scheichs und sonstige Kunden medizinisch betreut. Die omipräsente Tongrentang produziert in 25 Fabriken mehr als 1000 verschiedene Kapseltypen und will so rasch wie möglich 40 weitere Filialen in aller Welt aufsperren.

Leicht tun sich Chinas TCM-Spezialisten in Übersee allerdings nicht gerade: Zum einen sind große Pharmakonzerne wie Novartis und Boehringer bereits auf den Zug aufgesprungen; zum anderen machen ihnen die vielfältigen Handelsbarrieren enorm zu schaffen. Die EU etwa sekkiert sie seit Jahren so sehr, dass "diese Auflagen für unsere Medizin-Hersteller zu brutal sind", findet Huang Jianyin von der World Federation of Chinese Medicine Societies.

Im Mai 2011 führte Brüssel strenge Registrierungsregeln ein und schraubte die Importhürden, speziell mit den anfallenden hohen Kosten, empor. Fazit: Die chinesischen Firmen haben bislang allesamt noch nicht um Registrierung ihrer naturbelassenen Medikamente angesucht. "Sie müssen die Qualität der Produkte verbessern", sagt Meng Dongping, Vizechefin der Chamber of Commerce for Imports & Exports of Medicine and Health Products, "und sich auf die internationalen Guidelines besser einstellen."

Zulassung in den USA

Derzeit scheinen die Hoffnungen, dass eine Intervention der chinesischen Regierung die Lage entspannen könnte, größer als das Engagement der TCM-Produzenten zu sein. Nachdem Europa lediglich der viertgrößte Exportmarkt für ihre alternative Medizin ist, begnügen sie sich mit dem Status quo und kämpfen nur sehr vereinzelt um EU-weite Anerkennung ihrer Produkte: Mitte 2011 hat etwa die Foci Pharmaceutical Company aus der Provinz Lanzhou als erste chinesische Firma in Schweden um eine Produktlizenz angesucht - sobald sie diese erhielte, wäre sie im EU-Raum der Pionier.

In den USA, dem mit Abstand größten Absatzmarkt für traditionelle China-Pharmaka, geht’s jedoch um viel mehr: Dort schaffte es die Hengrui Medicine Co Ltd. aus Jiangsu kürzlich, nach jahrelangen Bemühungen die Zulassung der US Food and Drug Adminstration für ein Mittel gegen Krebs zu ergattern.

Die Tasley Group muss hingegen noch zittern, ob sie für ihr Herzmittel offiziell grünes Licht erhält und in Apotheken verkauft werden darf. Obwohl die Drugstores für Ginseng & Co. noch lange der wichtigste Absatzkanal bleiben werden, haben die Chinesen, die auch ein Aids-Wundermittel auf Lager hätten, den Optimismus noch nicht verloren: Für heuer wird erneut mit einem mindestens 20-prozentigen Zuwachs bei den TCM-Exporten gerechnet.

Österreich unter ferner liefen: Chinas wichtigste Exportmärkte für TCM-Medizin sind die USA, Indien, Japan, Deutschland und Südkorea – und erst ganz weit hinten kommt Österreich. Laut Statistik Austria nimmt hierzulande in etwa jeder siebente Bürger komplementäre Behandlungsmethoden wie TCM, aber auch Phytotherapie und Kinesiologie, in Anspruch. Im Vergleich etwa zu den Niederlanden, das dank des Großhändlers CMC Tasly mit 3000 Produkten als Europas führende Handelsdrehscheibe für alternative Kräuterkapseln fungiert, hat Österreich einen beträchtlichen Nachholbedarf: Während es in Holland bereits 5000 registrierte TCM-Praktiker gibt, müssen rund 15 österreichische Institutionen erst unentwegt gute Stimmung für Akupunktur, chinesische Diätetik oder Qigong machen. Rot-weiß-rote Protagonisten wie Andrea Zauner Dungl, Präsidentin des Dachverbands für TCM, und die Ärztin Gertrude Kubiena, ehemals Wiener Gesundheitsstadträtin und seit 15 Jahren Präsidentin der Vereinigung MedChin, preisen unermüdlich die alternativen Heilmethoden aus China, doch bei den derzeit 40.000 großteils der Schulmedizin verpflichteten heimischen ÄrztInnen finden sie relativ wenig Anklang. Auf der Homepage von MedChin werden lediglich 130 ärztliche China-Fans empfohlen, summa summarum gibt es erst einige hundert. Fünf Gesellschaften bieten derzeit eine zwei- bis dreijährige Ausbildung zum TCM-Arzt an. Viele Mediziner haben zwar ein Akupunktur-Diplom der Ärztekammer, doch sie verwenden die Nadeln großteils nur selten bis gar nicht. Von den 1300 Apotheken im Lande sind bloß 40 ausgewiesene TCM-Spezialisten. Dennoch wünscht sich Kubiena, dass "die Chinesische Arzneitherapie auch bei uns einmal einen triumphalen Siegeszug erlebt".