Zum Hauptinhalt springen

Wo die Windräder blühen

Von WZ-Korrespondentin Christine Zeiner

Wirtschaft

Fukushima hat Haltung der deutschen Regierung zur Atomkraft völlig geändert.


Berlin. Der Segen der Bickenbacher ist nicht zu übersehen. 150 Meter ragen die höchsten der Windräder in den Himmel und übertreffen damit die umliegenden Bäume um vieles. 8 Stück gehören zu Bickenbach, insgesamt 150 zur Region. Weitere Windräder sind geplant.

Bickenbach ist ein kleines Dorf mit 370 Einwohnern. Zwischen Rhein und Mosel im deutschen Mittelgebirge Hunsrück gelegen, sind die Einnahmequellen bescheiden. Landwirtschaft und Bergbau spielen keine große Rolle mehr - der Hunsrück gilt als strukturschwach. Da sind die Windräder Gold wert: Fundamente müssen gebaut, die Anlagen gewartet und die Arbeiter in den Gasthäusern verpflegt werden. Und pro Jahr und Anlage bekommt Bickenbach 20.000 Euro Pacht. Die Gemeinde ist seit einiger Zeit somit in der privilegierten Lage, Familien ein zusätzliches Kindergeld bezahlen zu können. Sie hat außerdem das alte Gasthaus im Dorf gekauft und saniert, und plant ein Haus für altersgerechtes Wohnen. "Vor zwanzig Jahren hat’s geheißen, Windräder sind Unsinn", sagt Bürgermeister Heribert Müller.

Bickenbach ist ein schönes Beispiel dafür, wie man ohne große Kraftwerke auskommen kann. 35 Millionen Kilowattstunden Strom produzieren die Windkraftanlagen hier jährlich, die in das örtliche Verteilernetz eingespeist werden. 3500 Kilowattstunden verbraucht im Durchschnitt ein deutscher Haushalt. Auf dem Papier kann sich Bickenbach damit locker unabhängig mit Strom versorgen. Man setzt zudem auf Biomasse, und auf den Dächern sind Photovoltaikanlagen installiert. Die "Energiewende" - die Versorgung ohne Atomstrom - ist hier in der Region voll im Gange.

150 Gigawattstunden werden "weggeworfen"

Doch Wind weht nicht überall, und er weht auch nicht immer gleich stark. Im Norden, in Schleswig-Holstein, werden immer wieder Windturbinen abgeschaltet, weil die Energie nicht in die vollen Leitungen eingespeist oder gespeichert werden kann. Im vergangenen Jahr wurden 150 Gigawattstunden "weggeworfen". Es wird zwar geforscht und getestet - noch fehlen aber große Speicheranlagen, in denen der Windstrom etwa per "Power-to-Gas-Verfahren" für schwächere Zeiten lagerbar ist.

Auch der Netzausbau geht nur schleppend voran, wie auch Kanzlerin Angela Merkel einräumen muss. Das ist ein Problem, will man Strom aus dem windreichen Norden in den Süden leiten, wo es bisher viele AKW gab. "Besorgniserregend" sei das für die Energiewende, heißt es von der Bundesnetzagentur. Spätestens 2022 soll das letzte der neun verbliebenen deutschen AKW abgeschaltet sein. Völlig überraschend hat Merkel vor einem Jahr den Kurs der Bundesregierung geändert: Eigentlich wollte sie die damals 17 deutschen AKW noch Jahrzehnte in Betrieb lassen. Die "Brückentechnologie" wurde beschworen; im Hintergrund setzten sich die vier großen Betreiber E.ON, EnBW, RWE und Vattenfall für den Einsatz ihrer abgeschriebenen AKW ein. Die Katastrophe in Fukushima habe ihre Haltung zur Kernenergie verändert, erklärte Merkel im Frühling 2011.

Zweifel, dass der Atomstrom ersetzt werden kann, gibt es kaum. Noch 2010 stammten 22 Prozent der deutschen Stromproduktion von Atomkraftwerken und 17 Prozent aus Windkraft, Biomasse, Wasserkraft und Photovoltaik. Im Vorjahr ist der Anteil der Kernenergie auf 18 Prozent gesunken - jener der erneuerbaren Energien dagegen auf 20 Prozent gestiegen. Energie müsse "sicher, umweltfreundlich und bezahlbar sein", sagte Merkel kürzlich. "Da liegt noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns."

Die Bundesregierung setzt vor allem auf Windkraft, und dabei besonders auf Offshore-Anlagen in der Nord- und Ostsee - eine "Spielwiese der Konzerne", wie die Kritiker und Skeptiker sagen. Denn Bau und Wartung sind teuer. Die Anlagen stehen dutzende Kilometer außerhalb der Küstengewässer. Bis zu 50 Meter tief ist das Meer dort. In Bickenbach dagegen ist das Fundament für ein Windrad gerade einmal zwei Meter in die Erde eingelassen: "Wie eine Tanne, ein Flachwurzler" sei das, erklärt der Windkraftanlagenbetreiber Ulrich Kreuzberger.

Die neuen Stromleitungen liegen selten im Zeitplan

Der Präsident des Bundesverbandes Windenergie, Hermann Albers, befürchtet, dass Offshore-Anlagen - für die es freilich auch Vergütungen gibt - aufgrund von Aufwand und Entfernung zu höheren Kosten für die Bürger führen. Dass 10.000 Megawatt an installierter Offshore-Leistung bis 2020 vorhanden sind, womit etwa 11,5 Millionen Haushalte versorgt wären, glaubt er nicht. So sah es die Bundesregierung ursprünglich vor. Zurzeit sind 50 Anlagen (200 Megawatt) installiert. "Dezentrale Anlagen sind billiger und entlasten den Netzausbau", sagte Albers jüngst im Norddeutschen Rundfunk. "Wir sind eine Bundesrepublik. Der Wind weht im Norden mit Sicherheit so gut, dass ab und zu eine Kilowattstunde auch über die norddeutschen Länder hinaus nach Süden transportiert wird. Deshalb sprechen wir so viel über Übertragungsnetze", erklärte Kanzlerin Merkel.

1800 Kilometer an neuen Stromleitungen - 24 verschiedene Projekte - waren bereits vor dem Atomausstieg vorgesehen. Aus den dabei aufgetretenen Problemen will man nun für den zusätzlichen Bedarf lernen. Denn die wenigsten Projekte liegen im Zeitplan. Laut Bundesnetzagentur sind bisher 214 von 1800 Kilometer fertig und 100 Kilometer davon in Betrieb. Einmal hapert es an der Planung des Netzbetreibers, dann wieder an den unterschiedlichen Raumordnungsverfahren - oder an den Bürgern.

"Ab in die Erde 380 Kilovolt": Hunderte gelbe Pfeile sind im Leinebergland in Niedersachsen zu sehen. Niedersachsen soll ein bedeutendes Stromtransitland werden. Doch die Bewohner der Gemeinde Kreiensen haben Angst vor der geplanten Hochspannungsleitung. Sie fürchten unter anderem Elektrosmog. Die "Wutbürger von Kreiensen", wie sie genannt werden, fordern, das Netz unterirdisch zu verlegen. Die Mehrkosten sollten der Netzbetreiber und seine Eigentümer, darunter RWE, übernehmen.

Die Bundesländer kochen ihr eigenes Süppchen

Wie viele Kilometer an neuen Leitungen durch die deutsche Energiewende überhaupt benötigt werden, ist noch unklar - auch, weil die Bundesländer ihr eigenes Süppchen kochen und unterschiedliche Konzepte haben. Einzelne Regionen sind viel weiter und leben bereits möglichst energieautark, produzieren also ihren Bedarf selbst.

Es ist nicht die einzige Baustelle der Energiewende. Auch über einen Standort für den Atommüll wird gestritten. Und die Länderkammer blockiert das Vorhaben der Regierung, Hausbesitzer über Abschreibungsmöglichkeiten dazu zu bringen, in moderne Heizanlagen zu investieren - den Ländern entgehen dadurch nämlich Steuereinnahmen von 1,5 Milliarden Euro. Dass zudem der Ökostromausbau die Privatkunden im Verhältnis stärker belastet als große Unternehmen, missfällt unter anderem der Opposition.

Ob die nun geplanten halbjährlichen Koordinierungsgesspräche zwischen Bund und Ländern viel bringen, bezweifelt so mancher. Einig sind sich mittlerweile aber fast alle Akteure: Viel mehr Abstimmung und eine ordnende Hand sind nötig.