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Allerhöchste Eisenbahn bei EM-Gastgeber Ukraine

Von Reinhard Krennhuber aus der Ukraine

Wirtschaft

Die ukrainische Eisenbahn ist durch die EM auf dem Sprung in die Neuzeit.


Kiew. Kharkiw, Anfang April. Der Nachmittagszug mit Nummer 171 steht bereit zur Abfahrt nach Donezk. Mehr als sieben Stunden wird die alte Garnitur aus Sowjetzeiten für die knapp 500 Kilometer benötigen. Der Ticketpreis von 7,50 Euro entschädigt für die lange Fahrt. Die Schaffnerin des Wagens serviert frisch gebrühten Schwarztee mit Zitrone, und die Zweite Klasse füllt sich mit einem bunten Gemisch an Passagieren. Kurz vor der Abfahrt fällt ein russisch-orthodoxer Priester in den Nebensitz und stellt sich als Anatoli Leonidowitsch Ieromonach Ioann vor.

Bei einem gemeinsamen Bier entspinnt sich aus ein paar Brocken Englisch, Deutsch, Russisch und Zeichensprache, einem Notizblock und der Unterstützung der umsitzenden Fahrgäste eine Unterhaltung über Gott und die Welt, über Stalin und Hitler, Bier und Schnaps. Die Reise, vorbei an den ehemaligen Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs und den Minen der Donbass-Region, vergeht wie im Flug. An ihrem Ende verabschieden sich zwei Menschen aus verschiedenen Generationen und gegensätzlichen Regionen Europas mit einer herzlichen Umarmung.

Konkurrenzlose Bahn

Die Fahrt mit der Eisenbahn bildet auch in der Ukraine eine gute Voraussetzung, um Land und Leute kennenzulernen. Während der Fußball-EM werden viele Touristen aus Europa auf dieses Fortbewegungsmittel zurückgreifen. Denn auch wenn sich vor den Fahrgästen in Form von kyrillischen Zeittafeln, kaum Englisch sprechendem Personal und verpflichtender Sitzplatzreservierung einige Hürden aufbauen, ist die Eisenbahn Ukrzaliznytsia angesichts der Distanzen und des schlechten Straßennetzes oft konkurrenzlos.

Das bestätigt auch Daniel Thomas vom Freiburger Reisebüro Gleisnost (www.gleisnost.de), das sich auf Zugreisen innerhalb Europas und nach Asien spezialisiert hat und vor der EM mit einem unerwarteten Kundenansturm konfrontiert wurde. "Vor ein paar Monaten haben wir einen Text über das Bahnfahren bei der EM auf unsere Website gestellt", erzählt Thomas. Die Hoffnungen auf ein großes Echo waren gering. Ein Irrtum. "Seit Mitte März hat sich täglich eine zweistellige Zahl an Fußballfans aus Deutschland gemeldet und mir nächtelanges Arbeiten beschert", sagt Thomas, der seither rund 100 Überstunden angehäuft hat. "Fast 500 Personen werden mit Fahrkarten und Reservierungen von Gleisnost zur EM reisen. Teilweise werden unsere Kunden mehrere Abteile und sogar Wagen hintereinander belegen."

Der Osteuropa-Experte des Freiburger Reisebüros kennt auch die Gründe für den Ansturm. "99 Prozent der Leute, die Tickets für die EM bestellt haben, sind keine passionierten Bahnfahrer. Sie machen es aus der Not heraus, weil die Reise mit dem Auto weit und mit dem Flugzeug sehr teuer ist." Durch Verträge mit zahlreichen Eisenbahngesellschaften in Europa verfügt Gleisnost über einen direkten Zugang zu den jeweiligen Buchungssystemen und kann Zugtickets mit einem Aufschlag direkt an den Kunden ausstellen. Zum unfreiwilligen Antreiber der Auftragslage avancierte die ukrainische Eisenbahn. Zwar wurden im Vorfeld der EM knapp 700 Millionen Euro in die Verbesserung der Infrastruktur investiert, der Großteil davon für neue Hochgeschwindigkeitszüge aus Tschechien und Südkorea. Für eine Website mit einem stabilen Online-Buchungssystem hat es aber nicht gereicht.

Schneller, aber teurer

Wer sein Ticket mit einer ausländischen Kreditkarte bezahlen wollte, war bei Ukrzaliznytsia zum Scheitern verurteilt. Dass die finale Fehlermeldung nur in Kyrillisch aufschien, machte den Frust nicht kleiner. Der Nachfrage aus der Ukraine tat das keinen Abbruch. Nach Inbetriebnahme der ersten Hochgeschwindigkeitszüge Mitte Mai, die Fahrzeiten zwischen den EM-Orten um ein Drittel drücken, wurden binnen weniger Tage über 10.000 Fahrkarten abgesetzt.

Für landesweite Aufregung sorgte jedoch die Streichung billiger Nachtverbindungen, die mit den neuen Fahrplänen einherging - selbst regierungstreue Medien übten heftige Kritik. Infrastrukturminister Boris Kolesnikow wies einen Zusammenhang mit den Hochgeschwindigkeitszügen von sich: "Das hat nichts mit den Hyundai-Zügen zu tun. Die alten Zuggarnituren waren teilweise in einem schrecklich mitgenommenen Zustand. Wir mussten sie aus dem Verkehr ziehen." In der Tat verfügt die ukrainische Eisenbahn über rund 7000 Waggons, von denen 95 Prozent noch zu Zeiten der Sowjetunion angeschafft wurden.

Die Aufregung der Leute ist dennoch verständlich. Denn die neuen Züge sind nicht nur schneller, sondern auch deutlich teurer als ihre Vorgänger. "Die Stimmung wird sich ändern, wenn im Sommer weitere Garnituren geliefert und die Verbindungen nach Odessa und Dnipropetrowsk ausgebaut werden", sagt Eugen Schabliowski vom Pressebüro von Ukrzaliznytsia. Für die EM erwartet er einen Härtetest für das Bahnnetz. "Die Züge werden absolut voll sein. Wir haben sehr viele Anfragen von ausländischen Fans, die über ukrainische Reisebüros an uns herantreten. Die Passagierabteilung arbeitet mit Hochdruck daran, zusätzliche Wagen und Verbindungen zu ermöglichen."

Pannen wie jene vom 27. Mai sollten sich dann aber nicht wiederholen. An diesem Sonntag verließ der Abendzug nach Kiew nämlich fast eine Stunde früher als geplant den Bahnhof von Donezk. Die Fahrplanänderung wurde nur kurzfristig angekündigt. Laut der Zeitung "Novosti Donbassa" waren die Waggons fast leer.