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Das uralte Märchen von Angebot, Nachfrage und fairem Preis

Von Stefan Melichar

Wirtschaft

Magere Datenlage, Interessenskonflikte und echte Manipulation|Hinterfragenswerte Preisbildung in Sektoren mit vielen Betroffenen.


Wien. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis - allerdings nur, wenn es nach alten Schulbüchern geht. Wie der aktuelle Libor-Zinsskandal zeigt, spielen in der Praxis oft äußerst hinterfragenswerte Faktoren in den Preisbildungsprozess hinein. Es gibt genug Beispiele dafür, dass hinter "Marktpreisen" nicht unbedingt unverrückbare, objektive Gesetzmäßigkeiten stehen müssen. Bewusst sind sich viele Betroffene dessen allerdings nicht.

Um beim Beispiel Libor (London interbank offered rate) zu bleiben: Der Großteil der Privatkredite in Österreich weist einen variablen Zinssatz auf. Man kann getrost annehmen, dass sich die meisten davon entweder auf den Libor oder auf den - artverwandten - Euribor (Euro interbank offered rate) beziehen. Diese Basiszinssätze - denen neben Kreditnehmern auch Besitzer bestimmter Wertpapiere ausgeliefert sind - fallen freilich nicht vom Himmel: Im Fall des Libor melden jeden Tag um 11 Uhr Londoner Zeit 18 Großbanken den Zinssatz, zu dem sie glauben, sich von anderen Banken Geld ausborgen zu können, an die Agentur Thomson Reuters, die dann ihrerseits eine Durchschnittsberechnung vornimmt. Der gemeldete Zins muss nicht durch tatsächliche Transaktionen fundiert sein, er beruht auf einer bloßen Einschätzung der Situation.

Raum für Unschärfen

Sogar noch mehr Interpretationsspielraum haben jene 43 Banken, die Daten zur Erstellung des Euribor liefern: Sie nehmen Schätzungen vor, zu welchen Zinsen sich die "besten Banken" der Eurozone - also nicht unbedingt sie selbst - untereinander Geld borgen könnten. Unschärfen sind - selbst ohne Manipulationsabsicht - also Tür und Tor geöffnet.

Das Wirtschaftsmagazin "Economist" verweist darauf, dass Banken einander aus einem Vertrauensmangel heraus derzeit gegenseitig so wenig Geld borgen, dass Libor und Euribor ein Maß für etwas sind, das in der Praxis kaum existiert.

Dass vermeintliche Weltmarktpreise auf Basis einer eher dünnen Datenlage gebildet werden, zeigt sich jedoch auch außerhalb des Finanzsektors. So war vor gar nicht allzu langer Zeit noch die Rede von einer "Treibstoffbörse" in Rotterdam, an deren Marktpreisen sich auch die Tankstellen in Österreich orientieren würden. Tatsächlich ist Rotterdam ein wichtiger Hafen für Erdölprodukte, und viele kurzfristige Geschäfte - sogenannte Spotmarkt-Geschäfte - werden dort abgewickelt. Allerdings entsteht der Preis, der dann als Referenzwert an die breite Öffentlichkeit gelangt, nicht an einer Börse. Er beruht nämlich im Endeffekt auf einer Einschätzung des Energie-Informationsdienstleisters Platts, der über seine Handelsplattform Teile des Marktgeschehens beobachtet.

Die österreichische Bundeswettbewerbsbehörde hat sich bereits im Jahr 2010 intensiv mit dem Zustandekommen der Platts-Notierungen für Diesel und Benzin auseinandergesetzt. Wichtigster Parameter dabei sind zwar die von den Marktteilnehmern über die Handelsplattform gebotenen und bezahlten Preise. Allerdings spielen auch noch Faktoren wie die Situation in verwandten Märkten oder gesamtwirtschaftliche Entwicklungen eine Rolle. Die Gewichtung der einzelnen Faktoren erfolgt jeden Tag auf Basis einer individuellen Einschätzung.

Platts veröffentlicht übrigens auch Preiseinschätzungen für Tage, an denen über seine Handelsplattform überhaupt kein Geschäft abgewickelt wurde. Laut Schätzungen der Bundeswettbewerbsbehörde dürften lediglich fünf bis neun Prozent des tatsächlich konsumierten Treibstoffes über Platts gehandelt werden. Was kurzfristige Spot-Geschäfte betrifft, könnte der Marktanteil allerdings größer sein.

Hedgefonds vorinformiert

Vor einigen Wochen hat der "Economist" in Zusammenhang mit Platts auf eine Firma verwiesen, die mit russischem Öl der Sorte "Urals crude" handelt. Der "Econmist" vermutet auf Basis detaillierter Analysen, dass das Unternehmen in früheren Jahren seine starke Marktpräsenz im entsprechenden Platts-Handelsfenster genutzt haben könnte, um den Preis für "Urals crude" zeitweise nach unten zu drücken. Damit könnte sich die Firma über Umwege Profite verschafft haben.

Das betroffene Unternehmen weist die Vorwürfe zurück. Auch Platts betont, dass es für ein einzelnes Unternehmen gar nicht möglich sei, den Preis entscheidend zu beeinflussen.

Allerdings gibt es gerade auf Rohstoffmärkten immer wieder recht unverblümte Versuche, auf Preise Einfluss zu nehmen. Im Jahr 2010 machte zum Beispiel ein britischer Investor Schlagzeilen, der Kakaobohnen im Ausmaß der europäischen Gesamtnachfrage aufkaufte. Mit einer derartigen Marktposition kann man sehr wohl Einfluss ausüben.

Doch nicht nur im Bereich der Preisgestaltung gibt es Marktteilnehmer, die eine bevorzugte Position einnehmen: Der "New York Times" wurden Dokumente zugespielt, wonach bestimmte Hedgefonds systematische Vorab-Informationen von Aktienanalysten großer Banken bekommen haben sollen. Konkret sollen die Analysten Andeutungen gemacht haben, ob sie die Bewertung bestimmter Aktien in naher Zukunft hinauf- oder heruntersetzen würden. Mit einem derartigen Zeitvorsprung lassen sich natürlich prächtige Geschäfte machen. Die "New York Times" nennt hier sogar konkrete Fälle.

Insgesamt dürfte den Aufsichtsbehörden in den kommenden Jahren die Arbeit nicht ausgehen.