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Nächtens durch die Wall Street

Von Thomas Seifert

Wirtschaft

Von der "globalen Stadt" zur "globalen Straße": Sassen sieht überall "Vertreibung".


"Wiener Zeitung": "Vertreibung" ist ein zentrales Thema in Ihren Büchern und Vorträgen.Saskia Sassen: Es geht um unterschiedliche Trends: Die Ungleichheit nimmt zu, die Armut ebenso, und wir haben immer mehr Menschen, die aus ihren Häusern geworfen werden. Immer mehr, die in Gefängnissen sitzen. All diese Trends haben sich in den vergangenen 30 Jahren verstärkt. Es gibt eine Reihe afrikanischer Nationen, die vor 30 Jahren besser dran waren als heute. Ich habe den Begriff der "Vertreibung" gewählt, weil man, um diese Zunahme an Leid in der Welt abzubilden, eine deutlichere Sprache wählen muss.

In der keynesianischen Periode waren wir mit diesen Problemen viel weniger konfrontiert. Und nun: Tahrir-Platz, die Indignados, Occupy Wall Street - diese Unzufriedenen sind Menschen aus der Mittelschicht, die versucht haben, nach den Regeln zu spielen. Aber der soziale Vertrag wurde aufgekündigt. Das Versprechen auf das gute Leben bleibt uneingelöst. Diese Geschichte hat freilich ihren Ursprung in einer Erwartung von Privilegien und Aufstieg. Die Reichen bleiben von diesen Problemen verschont und die Armen waren schon immer in einer schwierigen Situation. Aber die Mittelschicht sagt heute: "Oh mein Gott, wir sind aus diesem versprochenen Paradies vertrieben worden!"

Da schwingt marxistische Terminologie mit: Sie sprechen von "Vertreibung" - auf der anderen Seite geht es um "Aneignung". Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht?

Ich komme aus Südamerika. Da hat man schon immer in diesem Kontext gedacht. Aber mich interessiert die Zone der Macht weniger als die Verfasstheit der Machtlosen. Denn meist ist das Narrativ wie folgt: Hier sind also die Machtlosen, sie haben keinen Einfluss auf die Geschichte. Doch ist das wirklich der Fall? Mir geht es auch darum zu zeigen, dass auch die scheinbar Machtlosen Geschichte machen. Ich frage mich, was an den Rändern des Systems passiert.

Was passiert dort?

Als ich nach New York kam und dort begonnen habe, über die "Global City" nachzudenken, habe ich versucht, mehr über die Hochfinanz zu erfahren. Einer der Banker, mit denen ich gesprochen hatte, sagte zu mir: "Wenn Sie wissen wollen, wie das Finanzsystem funktioniert, dann gehen Sie an die Wall Street. Aber gehen Sie in der Nacht - während des Tages gehört die Straße uns." Können Sie sich diesen Macho vorstellen? Aber: Ich habe den Rat des Bankers befolgt, ich bin in der Nacht durch die Wall Street gestreift.

Und wen haben Sie dann dort angetroffen?

Reinigungspersonal. Diese Leute waren damals alle aus der Dominikanischen Republik. Also fragte ich sie: "Welche Büros putzt Ihr da eigentlich?" Es waren die Büros von Goldman Sachs, von allen möglichen Investment-Banken. Damals sind ja die großen Wall-Street-Banken aus der Stadt gezogen. Aber die Einwanderer haben mir gezeigt, dass sich eine neue Ökonomie aus der alten entwickelt. Viele große Banken verlegten tatsächlich ihre Büros aus der Stadt. Aber gleichzeitig entwickelte sich eine völlig neue Landschaft in der Finanzdienstleistungsbranche.

Sie haben den Begriff der "Global Street" geprägt. Was ist die "Global Street"?

Auf der einen Seite ist das ein physischer Ort, das kann aber auch ein digitaler Ort sein. Die "Global Street" ist eine Zone, die nicht von einer Geschichte geprägt ist, wo man bestimmte Dinge auf eine bestimmte Weise tut. Die "Global Street" folgt neuen Regeln.

Sprechen wir über die physischen Orte...

Die "Global Street" entsteht, wenn jemand von seinem Land vertrieben wird. Wenn diese Menschen dann im Slum landen, dann ist der Slum ihr neues Zuhause. Wenn jemand bereits in der dritten Generation im Slum lebt, dann nimmt dieser Jemand sein Schicksal als gegeben hin. Aber die Neuzuzügler? Eher nicht. Vor allem, wenn dieser Slum von einer neuen Generation von Slumbewohnern bevölkert wird, die bereits politisiert im Slum ankommen. Die Gewalt, die ihnen etwa bei der Vertreibung von ihrem Land angetan worden ist, prägt diese Menschen. Und so sind die Slums heute Orte der Transformation - auch der politischen Transformation - geworden. Die globalen Slums kommunizieren heute auch über Ländergrenzen hinweg miteinander, es ist ein neues Bewusstsein entstanden, das durch die neuen Kommunikationsmittel genährt wird. Ein Beispiel: Ich war einmal in den Slums von Buenos Aires und da sagte einer der Müllverwerter: "Señora, nosotros somos empresarios ecológicos" - "Liebe Frau, wir sind ökologische Entrepreneure." Da hat der Mann recht, so können sich Müllsammler zu Recht verstehen. Von den Slumbewohnern wurde schon immer Abfall gesammelt. Aber heute gibt es eine neue Generation, die ein neues Bewusstsein hat.

Die neue Geopolitik ist eine urbane Geopolitik, sagen Sie. Was meinen Sie damit?

Es geht nicht um China, es geht um Shanghai, Peking, Guangzhou und Chongquing. In der EU um Frankfurt, Brüssel und Berlin. Brüssel wäre freilich nicht bedeutsam, wenn es nicht die Hauptstadt der Europäischen Union wäre. Und wenn wir eines Tages die globalen sozialen Fragen ernst nehmen, dann entstünde eine neue urbane Landschaft, weil bestimmte Städte bestimmte Kompetenzen haben und hervortreten würden: Das sind Städte wie Wien, Genf oder Nairobi. Genf steht für globale Gesundheit, schließlich ist Genf der Sitz der Weltgesundheitsorganisation WHO. Wien hat ein Bündel von Fähigkeiten für die verschiedensten internationalen Fragen. In Nairobi ist die UN-Urban-Organisation Habitat angesiedelt, dort sind Kompetenzen zu einer besseren Zukunft der Städte zu finden.

Sie haben immer gesagt, dass Zürich und Kopenhagen die Dubais von Europa sind?

Was ich damit sagen wollte: Diese Städte sind Plattform-Städte. Google hat sein Hauptquartier in Zürich angesiedelt. Google geht es aber nicht um die Schweiz, sie haben ihr Hauptquartier in Zürich angesiedelt, um von dort aus Europa zu beackern.

Ist Wien auch so eine Plattform-Stadt?

Als die Mauer fiel, hatte ich für diese Plattform-Funktion drei Städte im Auge: Berlin, Wien und Budapest. Ich hatte damals das Gefühl, dass Budapest jene Stadt sein würde, die diese Funktion erfüllen könnte. Wien war für dieses Spiel noch nicht bereit, dachte ich, Berlin war mit sich selbst beschäftigt.

Doch Budapest ist es dann doch nicht geworden. Aber eine andere Frage: Sehen Sie in den Städten eine neue Renaissance des öffentlichen Personennahverkehrs?

Ein Auto ist für die Überwindung von großen Distanzen und für Geschwindigkeit gemacht. Und dann stellen Sie sich ein tolles Auto - einen Audi etwa - in der Stadt vor. Es kriecht dahin, all die wunderbaren Features, die die Ingenieure in das Auto gepackt haben, etwa Geschwindigkeit oder Kraft, werden von der Stadt einfach ausgebremst. Die Stadt kommuniziert auf diese Weise mit dem Auto. Das Auto kriecht im Stadtverkehr nur langsam vor sich hin. Die Stadt will uns etwas sagen. Es geht nämlich nicht um das Auto, es geht um die Urbanisierung von Technologie. Es geht nicht ums Auto, es geht um Mobilität. Welche Technologien funktionieren in der Stadt, welche nicht? Es geht auch um die Frage, ob die Stadt eine Stimme hat.

In Ihrem Vortrag beim Symposion Dürnstein ging es auch darum, wie das Streben nach Sicherheit im Krieg gegen den Terror für die Bürger Unsicherheit erzeugt.

Ich arbeite mit Mary Kaldor von der London School of Economics zusammen, und sie und andere Kolleginnen und Kollegen stellen den Begriff der menschlichen Sicherheit dem Begriff der Staatssicherheit entgegen. Sicherheit ist heute kein unschuldiger Begriff mehr. Das Streben der nationalen Regierungen nach mehr Sicherheit in dieser Zeit der asymmetrischen Kriegsführung schafft urbane Unsicherheit. Casablanca, London, Madrid sind ja nicht Teil des Kriegsschauplatzes. Wenn aber heute nationale Regierungen sagen, wir ziehen im Interesse der nationalen Sicherheit in einen Krieg, dann werden Städte in diesen Kriegsschauplatz hineingezogen.

Zur Person

Saskia Sassen, geboren 1949 in Den Haag, Niederlande, und aufgewachsen in Buenos Aires, Argentinien, ist US-amerikanische Soziologin und Wirtschaftswissenschafterin. Sie ist für ihre Analysen über Globalisierung und über internationale Migration bekannt. Sie ist zurzeit Professorin an der Columbia University und Gastprofessorin an der London School of Economics. Sassen prägte den Begriff "Global City". Sie sprach auf Einladung des Dürnstein Symposions darüber, wie das Streben nach Sicherheit für die Bürger Unsicherheit erzeugt.