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Die katastrophale Gier nach Fisch

Von Edwin Baumgartner

Wirtschaft
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Düstere Wolken ziehen sich über dem Meer zusammen: Der Raubbau an dessen Ressourcen und die maritime Tierquälerei erreicht derzeit ungeahnte Höhepunkte.
© wikipedia/Nat Pikozh

Die Bestände der meisten Seefische haben dramatisch abgenommen.


"Mehr Fisch essen, Fisch ist gesund", raten die Ärzte. Gesund für den Menschen - gewiss. Für das Meer ist der erhöhte Fischkonsum eine Katastrophe; eine weitere unter vielen. Heilbutt - gefährdet. Dornhai - gefährdet. Makrele - gefährdet. Seelachs - gefährdet. Seezunge - gefährdet. Einige der beliebtesten Fischarten sollten besser nicht mehr auf den Tisch kommen, rät ein von der Umweltschutzorganisation Greenpeace herausgegebener Konsumentenführer.

Die Industrie reagiert reflexartig: Der deutsche Bundesverband der Fischindustrie behauptet, die vielen negativen Bewertungen seien "Ausdruck ideologischer Prägungen, aber nicht wissenschaftsbasierter Fakten". Doch welche Ideologie verbirgt sich hinter der Empfehlung, Karpfen zu essen, Seeteufel hingegen nicht? Ganz einfach: Wer Süßwasserfische empfiehlt, von Meeresfischen jedoch abrät, gerät schnell in Verdacht zu behaupten, das Meer sei überfischt. Was im Verständnis der Fischindustrie "Ideologie" bedeutet.

Was ist die Wahrheit?

Um sie herauszufinden, fragte man im Rom der Antike "Cui bono?" - "Wem nützt es?" Und aus den Kriminalfilmen unserer Tage kennen wir auswendig den vom grauhaarigen, also alterserfahrenen Vorgesetzten des feschen Ermittlerduos geknurrten Satz: "Folgen Sie dem Geld."

Also: Hat Greenpeace einen finanziellen Gewinn davon, wenn weniger Fisch gegessen wird?

Andere Frage: Hat die Fischerei-Industrie einen finanziellen Gewinn, wenn der Fischkonsum nicht nur nicht eingeschränkt, sondern sogar gesteigert wird?

Die Befürworter einer uneingeschränkten Nutzung der Fischbestände führen dabei oft die Zahlen der FAO ins Treffen. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO veröffentlichte 2012 den scheinbar beruhigenden Bericht, dass 3 Prozent der Fischbestände erschöpft und 28 Prozent überfischt seien. Was heißt, dass immerhin 69 Prozent der Fischbestände gesund sind.

Doch die FAO bezieht nur jene Bestände in ihre Untersuchung ein, zu denen es ausführliche Informationen gibt. Das sind etwa 20 Prozent, nahezu zwangsläufig beschränkt auf jene Fischarten, die hohe Erträge bringen und den Fischfang gut verkraften. Blendet man 80 Prozent der Fischarten aus und stellt mit diesen 20 Prozent die Hochrechnungen an, kommt man zu unrealistisch guten Ergebnissen, die den komplexen Zusammenhängen im Ökosystem des Meeres nicht gerecht werden.

In Exzellenzclustern arbeiten Wissenschafter unterschiedlicher Disziplinen zusammen, um ein Thema zu erforschen. Der vom Meeresbiologen Rainer Froese geleitete Kieler Exzellenzcluster "Ozean der Zukunft" kam bei seinen Untersuchungen zur Überfischung, die sich auf 100 Prozent der Fischbestände des Meeres bezogen, zu einem alarmierenderen Ergebnis als die FAO: 33 Prozent der Bestände sind überfischt, weitere 24 Prozent müssen als erschöpft gelten. Gesund sind somit nur 43 Prozent der Bestände.

Umweltkiller Schleppnetz

Aber es kommt noch schlimmer: Laut dem Froese-Team sind auch 39 Prozent jener Bestände überfischt, die von der Umweltschutzorganisation WWF als unbedenklich ausgewiesen werden. Der Schluss liegt nahe, dass die Zustände dramatischer sind, als es selbst die Umweltschutzorganisationen darstellen.

Das Hauptproblem sind die Fangmethoden: Schlepp- und Treibnetze garantieren zwar hohe Fangquoten, allerdings auch einen hohen Beifang von Fischen, die damit dem Ökosystem des Meeres verloren gehen, ohne für die Nahrungsmittelindustrie einen Nutzen darzustellen. Das Schleppnetz gilt als intelligente Fangmethode, da die Weite der Maschen auf die zu fangende Fischart abgestimmt ist. Das bedeutet freilich, dass zwar die kleineren Fischarten entkommen, die größeren aber zum Beifang werden.

Das Grundschleppnetz, das zum Fang von Krebsen, Schollen und Seezungen eingesetzt wird, führt zu einer weiteren ökologischen Katastrophe: Das Netz wird vom Trawler über den Meeresboden gezogen, schmirgelt dabei die gesamte Flora und Fauna von der Alge bis zur Koralle ab und hinterlässt eine maritime Wüstenlandschaft.

Und all das wegen einer Teilwahrheit: Die im Fisch enthaltenen Omega-3-Fettsäuren sind zwar Wunderstoffe, die Herz- und Kreislauferkrankungen ebenso entgegenwirken wie Depressionen und die Studien zufolge auch positive Auswirkungen bei Demenz und Alzheimer haben bzw. diese Erkrankungen vorbeugen. Doch muss man sich vor Augen halten, dass man kaum so viel Fisch essen kann, um dem Körper eine auf diese Weise wirksame Omega-3-Menge zuzuführen. Atlantischer Lachs etwa, der Spitzenreiter was den Omega-3-Anteil betrifft, enthält 1,8 Prozent von den wundersamen Fettsäuren. Leinöl bewegt sich zwischen 50 und 70 Prozent.

Doch auch Feinschmecker, denen Omega-3-Fettsäuren völlig egal sind, schaden dem Meer: Der Boom der asiatischen Küche bewirkt, dass Haifischflossen längst nicht nur in Fernost als geschmacksneutraler Träger für raffinierte Würze beliebt sind. Manchen Gourmets vergeht nicht einmal dann der Appetit, wenn sie erfahren, dass ihre Delikatesse vom lebenden Hai geschnitten und der - auch jetzt noch lebende - verstümmelte Körper zurück ins Meer geworfen wurde.

Mit Haien, denen Steven Spielberg in "Jaws" das Stigma des ewigen maritimen Fieslings verpasst hat, kann man’s machen?

So einfach ist das nicht: Die Haiarten sind der rote Faden aller maritimen Regulative. Anders gesagt: Ohne Hai geht’s nicht. Und die meisten seiner Arten sind massiv bedroht: durch Überfischung, durch Nahrungsmangel aufgrund von Überfischung jener Spezies, die ins Beuteschema gehören, durch gezielte Tötung aufgrund der Angst des Menschen vor Haien.

Die langsame aber scheinbar unaufhaltsame Ausrottung der Haie ist umso sinnloser, als die Angst des Menschen vor ihnen irrational ist. Die International Shark Attack File, die wichtigste Datenbank für Haiangriffe, zählt pro Jahr 50 bis 100 Angriffe, von denen rund 10 tödlich verlaufen. Durch den Kontakt mit Quallen, etwa der fingernagelgroßen australischen Irukandji, sterben jährlich an die 100 Menschen; durch Elefanten übrigens rund 600. Und dass der Mensch die meisten Menschen tötet, steht ohnedies außer Frage.

Verlust der Unschuld

Abgesehen davon stoppt die maritime Tierquälerei nicht beim Hai. So haben norwegische Tierschützer der Fischindustrie den "Laksekrig" (Lachskrieg) erklärt: Die in den Fjorden gezüchteten geschätzten 355 Millionen Lachse und Forellen (wildlebend in Norwegen etwa 600.000) werden unter Bedingungen gehalten, die jeder Beschreibung spotten. Parasiten verstümmeln die Fische, indem sie ihnen langsam die Flossen abfressen, zudem vermehrt sich auch ein parasitärer Krebs, die Lachslaus, hemmungslos und greift mittlerweile auf die Wildlachsbestände über. Dabei hätten es die Norweger wissen müssen, denn auch in Kanada kam es bei Wildlachsen zu verstärktem Lachslaus-Befall, als die Zucht jedes Augenmaß und jede Hygiene verlor.

Überhaupt hat die Zucht von Meerestieren längst ihre ökologische Unschuld, für die sie einst aus Rücksicht auf die Wildbestände gepriesen wurde, verloren: So wird etwa die Garnelenzucht vor allem in Asien mit Unmengen von Chemikalien betrieben. Obendrein werden ungeheure Mengen von Antibiotika gefüttert, um durch Fäkalien übertragbare Krankheiten einzudämmen - was zu einer Explosion der antibiotikaresistenten Bakterienarten geführt hat, die nun nicht nur Wildbestände bedrohen, sondern auch im Verdacht stehen, beim Menschen Krankheiten, etwa der Haut, auszulösen.

Addiert man zu diesen Problemen die mittlerweile als solche erkannten aber nicht eingedämmten, etwa die Gefährdung durch Tanker, die immer größer und immer dünnwandiger werden, oder durch die Nutzung als Schuttabladeplatz für Sondermüll, ergibt sich das triste Bild eines hemmungslosen Raubbaus am Meer. Muss man wirklich ein fanatischer oder beruflicher Umweltschützer sein, um das als ein essenzielles Problem unserer Zeit zu begreifen?