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Das Ende der Austeritätspolitik in der Europäischen Union?

Von Martyna Czarnowska und Thomas Seifert

Wirtschaft

Vielleicht hatte am Ende doch John Maynard Keynes recht, der meinte, dass Schulden weniger wichtig sind als Arbeitslose


Brüssel/Wien. Die Entscheidung fällt in Bratislava: Dort tagen am Donnerstag die Notenbanker der Eurozone und befinden darüber, ob das Zinsniveau der EZB weiter sinken soll: Seit 11. Juli 2012 notieren die Zinsen bei 0,75 Prozent, doch Geld soll nach Meinung der Experten noch "billiger" werden - wenn nicht am Donnerstag in Bratislava so doch spätestens beim Notenbankertreffen im Juni.

Denn die Euro-Zone bleibt stur in Stagnation oder gar Rezession gefangen, in einigen Ländern ist die Arbeitslosigkeit so hoch wie seit vielen Generationen nicht mehr. Banken in Zypern, Griechenland, Irland und Portugal hängen am Geldtropf der Europäischen Zentralbank in Frankfurt.

Die Konjunkturmisere in Südeuropa zieht mittlerweile auch Länder in Zentraleuropa in Mitleidenschaft: Auch in Frankreich und sogar in Deutschland stottert der Konjunkturmotor.

Die EZB kann versuchen, mit billigem Geld den Konjunkturmotor wieder flottzukriegen und die Wortmeldungen aus dem Euro-Tower in Frankfurt gehen in die Richtung: So meinte etwa der portugiesische EZB-Vize-Präsident Vitor Constancio am Mittwoch vergangener Woche vor dem Europäischen Parlament: "Wir haben noch etwas Spielraum für Entscheidungen. [...] Und wir sind bereit zu handeln, wenn die Wirtschaftsdaten schlecht sind, was leider der Fall ist." Auch EZB-Chef Mario Draghi hatte Anfang April schon erklärt, er sei "bereit zu handeln".

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Tatsächlich haben die Banker in Frankfurt einigen Spielraum: Denn die EZB ist die konservativste aller westlichen Notenbanken, die Bank of England oder die Bank of Japan verleiht Geld billiger an die Geldhäuser. Zudem hat die EZB - im Gegensatz zu den Briten oder der Fed in Washington - nicht zum unkonventionellen Instrument des "quantitative easing" gegriffen - also kein Geld gedruckt, um damit Anleihen zu kaufen.

Das Problem: Das billige Geld, das Länder wie Griechenland, Zypern oder Italien als Medizin brauchen, ist für manche Regionen in Deutschland Gift: In München, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg und Berlin überhitzen die Immobilienmärkte.

Kann Super-Mario die Misere überhaupt lindern?

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich sonst zu EZB-Fragen nie äußert, meinte vor fachkundigem Publikum auf dem Sparkassentag in Dresden, dass die EZB die Zinsen für Deutschland vermutlich sogar erhöhen müsste. "Aber sie müsste für andere Länder eigentlich noch mehr tun dafür, dass noch mehr Liquidität zur Verfügung gestellt wird." Doch während der Häusermarkt in Ländern wie Österreich und Deutschland boomt, kommt das Diskont-Geld dort, wo es eigentlich gebraucht wird - bei den Klein- und Mittelbetrieben - kaum an. Und die Industrie hält sich aufgrund der schlechten Wirtschaftslage mit Investitionen weiter zurück. Was wiederum die Frage aufwirft: Kann Super-Mario, also EZB-Chef Mario Draghi, die Misere überhaupt lindern? Ist Geldpolitik das richtige Instrument? Zuletzt wurden die Stimmen lauter, dass nicht die Notenbanker, sondern die nationalen Regierungen Europas das Heft in der Hand hätten.

Ein Trommelfeuer der Kritik an der Sparpolitik ging zuletzt auf die politische Klasse der westlichen Länder nieder. "Financial Times"-Kolumnist Martin Wolf, Doyen der internationalen Wirtschaftskommentatoren, sein Kollege Wolfgang Münchau, die Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz und Paul Krugman kritisieren die eiserne Sparpolitik in Europa und den USA. Die politischen Eliten würden nur auf die Verschuldungsquote ihrer Länder achten und dabei die horrend hohe Arbeitslosigkeit und die anämischen Wachstumszahlen völlig aus den Augen verlieren.

Doch ohne Wachstum käme man nie aus den Schulden und die vergangenen fünf Jahre seit der Lehman-Pleite 2008 hätten gezeigt, dass der Politikmix nicht stimmt, so der Tenor der Kritiker.

Die Debatte pro und kontra Austerität ist so alt wie die moderne Wirtschaftswissenschaft. Hauptprotagonisten in diesem Uralt-Konflikt: Die Ökonomen Friedrich August von Hayek und John Maynard Keynes. Der britische Autor Nicholas Wapshott hat diesen Titanenkampf in seinem jüngst erschienenen Buch "Keynes Hayek: The Clash That Defined Modern Economics" nachgezeichnet. Der Radikal-Liberale Hayek dominierte die ökonomischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte, nun scheint der Stern von Keynes, der zur Krisenbewältigung deficit spending, also öffentliche Investitionen angeregt hat, wieder im Steigen begriffen.

Der Ökonom Mark Blyth hält Austeritätspolitik für eine "gefährliche Idee": "Austerität ist eine Form freiwilliger Deflation in welcher Löhne, Preise und öffentliche Ausgaben sinken, um Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen", schreibt er in seinem jüngsten Buch "Austerity - History of a dangerous Idea". "Aber sie funktioniert schlicht und einfach nicht - weder sinken die Schulden, noch kommt das Wachstum wieder in Gang". Zudem mache sie Staatsanleihen riskanter.

Eine der politischen Prämissen für die Austeritätspolitik ist zuletzt gefallen: Nachdem in einem einflussreichen Papier der Harvard-Ökonomen Kenneth S. Rogoff und Carmen Reinhart davon die Rede war, dass ein Schuldenstand von 90 Prozent und darüber fatal für eine Volkswirtschaft sei. EU-Kommissar Olli Rehn machten das Rogoff/Reinhart-Papier zum Dogma. Doch nun stellte sich heraus, dass das Papier zahlreiche handwerkliche Fehler aufweist.

Keine Änderung des Sparkurses in Brüssel

Dazu kommen die politischen Kosten: Die EU-Bürger folgen ihren Eliten nicht mehr und die Kritik an Sparmeister Deutschland wird innerhalb der EU lauter. Geht es so weiter, dann steht das Projekt der Europäischen Union auf der Kippe. Der Rat der Austeritäts-Kritiker: Wenn man in einem Loch gefangen ist, sollte man aufhören, zu graben.

Dass die EU-Kommission sich von ihren Vorgaben zur Sparpolitik abwendet, ist dennoch nicht zu erwarten. Wie wichtig die Haushaltsdisziplin ist, wird immer wieder betont. Doch mischen sich in die Mahnungen mittlerweile auch andere Töne. So hat Währungskommissar Olli Rehn signalisiert, dass die Brüsseler Behörde verschuldeten Ländern entgegenkommen und ihnen mehr Zeit einräumen könnte, das Budgetdefizit zu verringern. Das würde sowohl Frankreich als auch Spanien zupass kommen. Umgekehrt hat sich Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso heftige Kritik aus Deutschland eingehandelt, als er in der Vorwoche davon sprach, dass die Sparpolitik an ihre Grenzen gelangt sei. Diese Agenda bräuchte nämlich sowohl politischen als auch gesellschaftlichen Rückhalt.

Von dem kann aber kaum die Rede sein, schon gar nicht, wenn eine Senkung der Arbeitslosenzahlen nicht in Sicht ist. Immerhin ist in der EU jeder zehnte Mensch ohne Job, und die soziale Schere öffnet sich immer weiter: Auch Brüssel warnt vor einem Auseinanderdriften der nördlichen und südlichen Länder, das die Gefahren einer langfristigen Ausgrenzung birgt.

"Sparen allein schafft kein Wachstum"

Daher stellt nun Sozialkommissar Laszlo Andor ebenfalls fest: "Sparen allein schafft kein Wachstum." Vielmehr brauche es dafür zusätzliche Investitionen und Nachfrage, erklärte er der "Süddeutschen Zeitung". Die Wirtschaft lasse sich ankurbeln, wenn Länder mehr Zeit zur Defizitsenkung bekommen, damit sie mehr investieren können. "Wenn man kein Wachstum zulässt, sehe ich nicht, wie der Schuldenstand sinken soll", meinte Andor.

Gegen eine Lockerung der Sparpolitik wehrt sich allerdings zumindest eine Regierung. Berlin pocht weiterhin auf die Einhaltung der Haushaltsdisziplin. Dafür muss sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auch persönliche Kritik gefallen lassen. So verfasste ein Teil der französischen Sozialisten ein Strategiepapier, in dem sie die "egoistische Unnachgiebigkeit" Merkels anprangern. Die Kanzlerin habe "ausschließlich das Interesse der deutschen Sparer, die in Berlin registrierte Handelsbilanz und ihre eigenen Wahlaussichten" im Sinn. Doch der Druck auf Deutschland wächst.

So wird auch Frankreichs Präsident François Hollande weiter auf eine Abwertung des Euro oder Vergemeinschaftung der Schulden der Euro-Länder drängen, was Deutschland ablehnt. Ein weiterer Gegenspieler könnte Merkel in Gestalt des neuen italienischen Premiers erwachsen: Enrico Letta hat bereits angekündigt, sich in der EU für mehr Ressourcen für Wachstum und Entwicklung einzusetzen.

Unter den Sozialdemokraten im EU-Parlament ist die Kritik an den Sparvorgaben schon seit längerem länderübergreifend. Das strikte Festhalten an den Maßnahmen sei weder effektiv noch sozial verträglich, finden sie. Nach fünf Jahren Krise habe dies auch endlich Kommissionspräsident Barroso begriffen, erklärte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten, Hannes Swoboda.

Auch einige Ökonomen weisen auf die sozialen Konsequenzen des europäischen Sparkurses hin. So stelle sich immer mehr die Frage, wie viel und wie schnell gespart werden soll, meint etwa Guntram Wolff, Vizedirektor der in Brüssel ansässigen Denkfabrik Bruegel. "In Südeuropa ist der Spielraum dafür gar nicht so groß", sagt er der "Wiener Zeitung". Daher sei nicht auszuschließen, dass Spanien beispielsweise weitere Unterstützung brauchen werde - wie ein Programm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, die dort immerhin die Hälfte der Unter-25-Jährigen trifft. "Dafür bräuchten wir aber ein zentrales Budget; stattdessen haben wir koordiniertes Sparen", erklärt der Ökonom.

Laut Wolff würde die Einwilligung Berlins zur Schaffung eines Budgets für die Eurozone, das dabei helfen soll, Jobs zu kreieren, gleichzeitig die Sympathien für Deutschland in etlichen Ländern wieder steigen lassen. Denn auch wenn dort die Sparpolitik oft auf den Druck der Finanzmärkte - und nicht lediglich Berlins - zurückzuführen sei, könnte sich Deutschland ebenso flexibler zeigen.

Das könnte Merkels Regierung ebenfalls bei der Lohnpolitik tun. Deutschland wird schon seit längerem wegen der vergleichsweise zurückhaltenden Lohnabschlüsse kritisiert; in Belgien und Frankreich ist schon von "Lohndumping" die Rede. Daher sprach sich auch Sozialkommissar Andor dafür aus, die Gehälter in Deutschland zu heben, um die dortige Nachfrage anzuregen. Es sei nämlich nicht zu rechtfertigen, dass das Land einen Lohnwettbewerb beibehalte. Vielmehr müssten sich Staaten mit Exportüberschüssen - wie eben Deutschland - ähnlich anpassen wie Defizitländer, betonte Andor.