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"Abenomics" kommt ins Wanken

Von WZ-Korrespondentin Sonja Blaschke

Wirtschaft

Der frühere Optimismus der Investoren schlägt in Enttäuschung um.


Tokio. Bei den japanischen Wertpapierhändlern wollten nach dem zweitstärksten Kurseinbruch dieses Jahres an der Tokioter Börse die Telefone nicht mehr stillstehen. Besorgte Anleger erkundigten sich, wie viel Geld sie verloren hatten. Denn der Nikkei-Index war den dritten Tag in Folge abgestürzt, am Donnerstag um 843,94 Punkte auf 12.445,38 Punkte. Dem voraus gingen ein Wertverlust des Dollars zum Yen und Verluste an der Wall Street in der Nacht zuvor, die sich auf Aktienmärkte nicht nur in Tokio, sondern auch in Shanghai, Hongkong und auf den Philippinen auswirkten. Bemerkungen von US-Zentralbankchef Ben Bernanke werden als ein Auslöser des letzten Kursabsturzes gesehen. Er deutete die Möglichkeit an, dass die USA bald ihre lockere Geldpolitik wieder reduzieren würden. Rechtzeitig zuvor wollten Investoren noch einmal Gewinne mitnehmen und verkauften ihre Aktien.

Während die Regenzeit Tokio dieser Tage in ein deprimierendes Grau hüllt, dürften sich die Mienen mancher Passanten, die am Donnerstag an den Kurstafeln der Börse im Tokioter Finanzdistrikt im Chuo-Bezirk unter ihre Schirme geduckt vorbeigingen, angesichts des Kurssturzes noch einmal mehr verdüstert haben. Inzwischen mehren sich auch in Japan, wo die Medien seit einem halben Jahr fast ausnahmslos die "Abenomics" genannte Wirtschaftspolitik von Premierminister Shinzo Abe hochjubeln, besorgte Stimmen. Der Aktienmarktindex erreichte am Donnerstag seinen niedrigsten Stand seit dem 3. April. Damals hatte die Bank of Japan (BoJ) am Tag danach angekündigt, ihre Geldpolitik weiter zu lockern.

Bereits vor kurzem war ein Schreck durch die Börsianer gefahren: Nach dem Höchststand am 22. Mai mit 15.942,60 Punkten war der Nikkei Index schon gleich am nächsten Tag um über 1100 Punkte abgesackt.

Japan galt im ersten Quartal des Jahres noch als guter Tipp unter ausländischen Investoren. Der Markt wollte nach zwanzig trüben Jahren an die von Abe skizzierte Erfolgsgeschichte glauben. Anfangserfolge, wie der schnell abwertende Yen, der im Vergleich zu vor einem halben Jahr rund 25 Prozent seines Wertes zum Euro verlor, sowie steigende Aktienkurse schienen für seine Politik zu sprechen. Sie besteht aus drei Elementen, in Japan "drei Pfeile" getauft: eine Verdoppelung des jährlichen Inflationsziels auf zwei Prozent, ein dickes Investitionspaket des Staates, vor allem in Bau- und Infrastrukturprojekte, und ein "Wachstumsprogramm", das etwa die Lockerung des stark regulierten Arbeitsmarktes vorsieht. Die Volkswirtschaft der ostasiatischen Inselnation schaffte im ersten Quartal ein Wachstum von 1,0 Prozent; Deutschland kam auf 0,1 Prozent, die USA auf 0,6 Prozent.

Die Devise: erst Wachstum, dann das Schuldenproblem

Doch in den letzten Wochen wurde immer klarer, dass die "Abenomics" nicht für jede Branche und jede Altersklasse von Vorteil ist. Vor allem von Energieimporten abhängige Branchen litten darunter. Jetzt soll es an die Geldbeutel der Senioren gehen: Es wird überlegt, sie wieder mehr an den Kosten für medizinische Dienstleistungen zu beteiligen. Außerdem befürchten viele Verbraucher und Firmen eine Verschlechterung ihrer Lage, wenn die Mehrwertsteuer 2014 von fünf auf acht Prozent erhöht wird. Auch dafür muss sich Abe Lösungen überlegen.

Unter den ausländischen Investoren machte sich die Ungeduld mangels konkreter Maßnahmen Abes breit. Sie begannen, dem Aktienmarkt der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt den Rücken zu kehren. Analysten von Daiwa und Mizuho Securities sagten dem Fernsehsender NHK, dass Investoren immer vorsichtiger würden und Risiken scheuten. Der Optimismus, der gerade unter den ausländischen Investoren besonders groß war, sei dabei in Enttäuschung umzuschlagen.

Dazu trug auch bei, dass Abe mit der Vorstellung weiterer Details seiner Wachstumsstrategie vor wenigen Tagen die Erwartungen nicht erfüllte. Zu wenig Konkretes trotz vieler Zahlen, lautet der Vorwurf. So kündigte Abe ein durchschnittliches jährliches Wachstum von drei Prozent nominal und zwei Prozent real an. Doch Reformen, wie etwa die Deregulierung des Arbeitsmarktes oder Steuerkürzungen für Unternehmen blieb Abe schuldig.

Ein häufiger Kritikpunkt an den "Abenomics" ist, dass sich Japan sein Wirtschaftswachstum mit der Aufhäufung weiterer Schulden erkaufen will. Ende März beliefen sich Japans Staatsschulden auf 991 Billionen Yen, 240 Prozent der Wirtschaftsleistung; in einem Jahr könnten es 1100 Billionen sein, so Experten. Deswegen sagte Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds: Japans Geldpolitik sei "auf dem richtigen Pfad", aber "müsse mit einer besser ausgeglichenen Fiskalpolitik kombiniert werden". Doch davon will Abe nichts wissen: Er halte nichts von einem zu harten Sparkurs. Seine Devise: erst Wachstum, dann das Schuldenproblem.

Um den aktuellen Negativtrend aufzuhalten, brauche es, so der Ökonom Tsuyoshi Nomaguchi von Daiwa Securities, eine ermutigende Bemerkung Bernankes, dass die US-Zentralbank die lockere Geldpolitik weiter fortsetze. In Japan muss Premierminister Abe nachbessern, das hat er selbst erkannt. Er kündigte weitere Maßnahmen für den Herbst an.

"Jetzt ist das Ende des von Erwartungen getriebenen Marktes gekommen", sagte ein Kommentator des TV-Senders NHK. Abe müsse nun zeigen, dass er seine "Abenomics" auch konkret umsetzen und greifbare Resultate erzielen könne. Wenn er die Märkte wieder enttäuscht, wird eintreten, was Kritiker befürchten - das Ende der nächsten Blasenwirtschaft in Japan, zwanzig Jahre nach Platzen der Immobilienblase Anfang der 1990er.