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"Recht auf Arbeit wird angegriffen"

Von Klaus Huhold

Wirtschaft

UN-Sonderberichterstatter Olivier de Schutter über Menschenrechtsverletzungen.


Wien ist derzeit Hauptstadt der Menschenrechtskonferenzen. Unter dem Motto "Vienna+20" begann gestern, Dienstag, eine zweitägige Tagung von NGOs im Haus der Europäischen Union, am Donnerstag folgt eine zweitägige vom Außenministerium initiierte Veranstaltung. Grund ist ein Jubiläum: Im Juni 1993 fand in Wien die zweite Weltkonferenz über Menschenrechte statt, die entscheidend zur Schaffung eines neuen globalen Menschenrechtssystems beitrug. 20 Jahre danach ziehen dutzende internationale Experten Bilanz und diskutieren jüngste Entwicklungen. Ein heiß debattiertes Thema ist dabei die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die Menschenrechte. Die "Wiener Zeitung" sprach darüber mit Olivier de Schutter, dem UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung.

"Wiener Zeitung": Wie weit führt die Wirtschaftskrise zu Menschenrechtsverletzungen? Oder ist sie lediglich ein ökonomisches Problem?Olivier de Schutter: Die Krise ist auch ein Menschenrechtsproblem. Sie hat zu Reformen geführt, die einen Rückschritt bei der Erfüllung ökonomischer und sozialer Rechte zur Folge hatten. Ein Punkt ist dabei wichtig: Wenn öffentliche Dienste im Gesundheits- oder Schulwesen reduziert werden, dann müssen hauptsächlich Frauen die Last tragen. In vielen Ländern, die von der Rezession betroffen sind, beobachten wir das nun. Die Menschenrechte sind aber auch Teil der Lösung der Krise. Je besser der Zugang zu sozialen Leistungen ist, desto stärker wird Nachfrage stimuliert, weshalb die Auswirkungen der Krise auf die Wirtschaft reduziert werden können. Aber die Menschenrechte werden derzeit nicht als Teil der Antwort betrachtet.

Haben Sie hier eher Entwicklungsländer im Auge oder auch Europa?

Das trifft auch Europa. Statistiken über die Kinderarmut in Spanien oder Griechenland bereiten uns sehr große Sorgen. Zudem beobachten wir in den besonders von der Krise betroffenen Ländern auch Unterernährung bei Kindern. Das ist doch etwas, was wir im Europa des 21. Jahrhunderts nicht erwarten würden.

Aber auf der anderen Seite lautet ja das Argument, dass harte Sparmaßnahmen notwendig sind, damit die von der Krise betroffenen Länder in einigen Jahren wieder prosperieren können.

In der Realität wurden die Staaten in den letzten 20 Jahren der Möglichkeit beraubt, ihre öffentlichen Dienste zu finanzieren. Familien wurden stark besteuert, Unternehmen aber kaum - denn sie können immer androhen, in das nächste Land weiterzuziehen. Und sie haben auch ausgeklügelte Strategien, so wenig Steuern wie möglich zu zahlen. Die Verschuldung der Staaten wurzelt also auch in ihrem Unvermögen, die wirtschaftlichen Akteure ordentlich zu besteuern. Steuergerechtigkeit ist also ein Grundpfeiler bei der Bekämpfung der Krise. Austeritätsprogramme sollten kein Ersatz für die Suche nach strukturellen Lösungen sein.

Welche Menschenrechte werden durch die Krise angegriffen?

Vor allem zwei: das Recht auf Arbeit und das auf Recht auf soziale Sicherheit. Ersteres bedeutet natürlich nicht, dass jeder Arbeitslose vom Staat einen Job erhält und jeder eine Anstellung erhalten muss. Es meint vielmehr, dass Staaten einer Politik folgen sollten, die auf Vollbeschäftigung abzielt. Und die Politik der Regierungen hat in der Krise meines Erachtens nach nicht darauf abgezielt, sondern auf die Stabilität der Finanzmärkte und die Verringerung der Defizite, um die Märkte zu beruhigen.

Und wo beginnt das Recht auf soziale Sicherheit? Ist das nicht eine Definitionssache?

Die Basisregel ist, dass es progressiv realisiert werden muss. Jeder Rückschritt ist problematisch. Für diesen müssen die Staaten sehr starke Argumente haben, damit sie dazu autorisiert sind.

Sie sind UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Wann ist dieses besonders gefährdet?

Erstens in Krisensituationen, wenn es etwa Überflutungen oder eine Dürre gibt. Aber diese Desaster sind nie nur naturgegeben. Es geht auch darum, ob Regierungen adäquat reagieren. Ist das nicht der Fall, dann wurde das Recht auf Nahrung verletzt. Aber der Großteil der Verletzungen dieses Rechts hängt mit strukturellen Hunger zusammen. Laut einer Schätzung - und die ist sehr konservativ - sind 860 Millionen Menschen unterernährt. Der Grund dafür ist extrem Armut, die eine direkte Antwort der Regierungen erfordert - etwa durch ausreichende soziale Fangnetze, oder durch adäquate Steuersysteme, durch die die Reichen die Ärmsten unterstützen. Natürlich haben Entwicklungsländer oft nicht genug Budget und müssen unterstützt werden. Auch das könnte viel mehr geschehen.

Haben wir die Mittel, um den Hunger auf der Welt zu besiegen?

Ja, die Staaten sind nicht hilflos und wir haben die Mittel. Der massive Hunger ist ein politisches, kein technisches Problem, und Regierungen sollten dafür verantwortlich gemacht werden.

Sollten nur Regierungen dafür zur Rechenschaft gezogen werden? Am Pranger stehen ja auch multinationale Konzerne, die Landgrabbing betreiben, oder Spekulationen mit Rohstoffen?

Letztlich sollten Regierungen die Marktakteure, Investoren oder die Finanzindustrie kontrollieren. Aber es wird nun auch immer mehr auf die menschenrechtliche Verantwortung von nichtsstaatlichen Organisationen oder von transnationalen Unternehmen gepocht. Der Menschenrechtsrat verabschiedete nun eine Resolution, die sehr klar transnationale Unternehmen in die menschenrechtliche Verantwortung nimmt. Die Entwicklung geht in eine vielversprechende Entwicklung: Wenn Staaten zu schwach sind, um private Akteure zu kontrollieren oder die Menschenrechte zu schützen, dann sollen multinationale Unternehmen in die Verantwortung genommen werden.

Olivier de Schutter ist UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Zudem gehören zu seinen Arbeitsschwerpunkten soziale Rechte und internationales Menschenrechte, worüber der Harvard-Absolvent an der katholischen Universität Louvain in Belgien lehrt.