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"Coup der kapitalistischen Klasse"

Von Thomas Seifert

Wirtschaft

Inflationsbekämpfung ist den Politikern heute wichtiger als Vollbeschäftigung.


"Wiener Zeitung:" Mein Großvater sagte in den 70er Jahren, die Enkelgeneration sei wirklich beneidenswert: Sie würde eines Tages nur mehr wenige Stunden pro Tag in die Fabrik oder ins Büro gehen, um nachzusehen, ob bei den Robotern und Computern alles gut läuft, ansonsten aber ein Leben von Freizeit und Glückseligkeit genießen. Warum ist aus dieser Utopie nichts geworden?Robert Skidelsky: Der große Ökonom John Maynard Keynes hatte diese Vision in seinem Aufsatz "Economic Possibilities for our Grandchildren" entwickelt. Wir arbeiten heute ja tatsächlich etwas weniger, aber nicht annähernd so wenig, wie Keynes damals dachte. Ich habe zwei Erklärungen dafür: Es liegt in der menschlichen Natur, immer mehr und mehr zu begehren. Auch wenn wir heute mit einem geringeren Arbeitseinsatz und in kürzerer Zeit dieselbe Menge an Gütern produzieren können als vor einigen Jahrzehnten, müssen wir trotzdem immer mehr arbeiten, weil wir immer mehr und mehr konsumieren wollen und unsere Ansprüche mehr und mehr steigen.

Zweitens sind die meisten Menschen nicht in der Lage, über ihre Arbeitszeit zu bestimmen, denn die bestimmen die Arbeitgeber, die auch die Kontrolle über die Höhe der Löhne und Gehälter haben. Ihr Großvater hat sich wohl gedacht, dass der Wohlstand der Menschen mit dem generellen Wohlstandszugewinn Schritt halten wird, aber das war in vielen Fällen nicht der Fall. Heute arbeiten viele Menschen für Mindestlöhne, Wohlstand und Einkommen sind immer ungleicher verteilt. Die einen wollen nicht weniger arbeiten, weil sie immer höhere materielle Ansprüche befriedigen müssen, andere wiederum können es sich schlicht nicht leisten, weniger zu arbeiten.



Wie verhält es sich heute mit dem Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital?

Wenn man die Sache aus historischer Perspektive ansieht: Als Karl Marx "Das Kapital" schrieb, gab es keine Gewerkschaften. Die Löhne wurden von den Fabriksbesitzern bestimmt. Die Differenz zwischen Löhnen und Gehältern und den Erlösen für die produzierten Güter war der Profit für das Unternehmen. Profit und Ausbeutung gingen also laut Marx Hand in Hand. Doch mit dem Fabrik-System, dem damit einhergehenden Aufstieg der Gewerkschaftsbewegung und dem Siegeszug der Demokratie begann sich das Machtgleichgewicht vom Kapital hin in Richtung Arbeit zu verschieben. Der Ökonom John Kenneth Galbraith schrieb 1952 das Buch "American Capitalism: The Concept of Countervailing Power", in dem er sagte, dass eine Balance zwischen Kapital, Arbeit und der Regierung gefunden worden sei. In dieser Situation war die keynesianische Revolution möglich, bei der sich die Regierungen zur Vollbeschäftigung verpflichteten. Doch später ist diese keynesianische Revolution gescheitert.

Warum?

Es war wohl so: Als die Profite zu sinken begannen und die Gewerkschaften es übertrieben, hat die kapitalistische Klasse einen Putsch verübt. Nach diesem stillen Coup wurde der Kampf gegen die Inflation zum wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziel und löste das Ziel Vollbeschäftigung ab. Sobald man aber die Waffen gegen die Inflation richtet, muss man eine höhere Arbeitslosigkeit akzeptieren oder man erzeugt damit gar Arbeitslosigkeit. Marx nannte das die Reservearmee der Arbeitslosen. Marx’ Analyse der Machtverhältnisse und viele andere seiner Analysen sind heute relevanter denn je. Wo Marx aber irrte: in seinem Glauben daran, dass man mit dem Kommunismus alle Probleme lösen könnte. Aber wir wissen, dass das nicht funktioniert hat, zumindest in der Form, in der es versucht wurde.

Welche Rolle spielt der Niedergang der Gewerkschaften?

Die Gewerkschaften wurde in der Ära von Margaret Thatcher und Ronald Reagan bewusst geschwächt. Einerseits mit gesetzlichen Einschränkungen, andererseits wurde die Unterstützung für den Produktions-Sektor abgezogen. Mit der Deindustrialisierung wurde der Niedergang der Gewerkschaften eingeleitet. Denn die Gewerkschaften waren und sind traditionell in zwei Sektoren stark: im Produktionsbereich und im öffentlichen Dienst. Im Dienstleistungssektor gibt es kaum starke Gewerkschaften. Nun soll es dem öffentlichen Sektor - der letzten Bastion der Gewerkschaft - an den Kragen gehen. Nun dominiert die Idee einzelner Individuen, die untereinander Verträge abschließen, man braucht keine kollektiven Verhandlungsrahmen und damit keine Gewerkschaften. In einem solchen idealisierten System gibt es kein Machtgefälle zwischen den einzelnen Individuen. Das ist natürlich eine völlig unrealistische Sicht auf das Wirtschaftsgeschehen.

Als 1989 der Kommunismus kollabierte...

...wurde das westliche politische System dadurch viel selbstbewusster. Der Herausforderer des Westens lag am Boden. Dann setzte die Globalisierung ein. Arbeit und Produktion konnten nun ausgelagert werden. Die Menschen, die vorher jene Jobs erledigt haben, die dann nach China oder in andere Billiglohnländer transferiert wurden, wurden in den unteren Teil des Dienstleistungssektors dekantiert - der Lohndruck stieg. Die Idee, dass wir in einer Welt des harten Wettbewerbs leben, in der wir ständig die Kosten drücken müssen, gewann Anhänger. In vielen Sektoren war dadurch der Profit vor der Krise immens - eine Umkehrung zur Zeit der 70er Jahre, als man einen Druck auf die Profite hatte.

Was würde John Maynard Keynes, über den Sie immer wieder geschrieben haben, heute tun?

Er würde wohl eine Menge Geld in die Wirtschaft pumpen. Und zwar vermutlich durch Staatsinvestitionen. Keynes sagte einmal: Wenn der Regierung gar nichts Besseres einfällt, dann soll sie in Krisenzeiten einfach Löcher aufgraben und wieder zuschütten lassen. Er schrieb auch darüber, wie die alten Ägypter mit dem Bau der Pyramiden gleich zweimal segnungsreich wirkten: Die Menschen bekamen Arbeit und hatten das Gefühl, etwas für ihr spirituelles Wohlergehen getan zu haben.

Warum dominieren die Austeritätspolitik und das Sparen - und nicht keynesianische Lösungsansätze?

1941 veröffentlichte Keynes eine Aufsatzsammlung unter dem Titel: "Essays in Persuasion". Da-rin schrieb er, er sei ein Kassandrarufer, der die Ereignisse nie rechtzeitig beeinflussen konnte. Er wusste, dass die Menschen nicht auf seine Botschaft hörten, auch wenn sie mit wunderbaren Argumenten und unglaublicher Eloquenz vorgebracht wurden. Die Realität war damals in der Zwischenkriegszeit auch: Sparen, sparen, sparen. Seine "Allgemeine Theorie" hatte zwar bei den Ökonomen Eindruck gemacht, ich bin aber nicht sicher, ob es ohne Krieg eine keynesianische Politik gegeben hätte. Keynes hatte 1939 gesagt: Ich zweifle daran, ob Demokratien in der Lage sein werden, meine Theorien außerhalb von Kriegszeiten anzuwenden. Dann kam der Krieg, die Arbeitslosigkeit verschwand. Nach dem schrecklichen Morden dachten dann die Menschen: Immerhin, jetzt wissen wir, dass Keynes Theorien funktionieren, die Regierungen behielten 20, 25 Jahre Vollbeschäftigung bei.

Aber heute haben wir immens hohe Arbeitslosigkeit: etwa in Spanien oder Griechenland.

Schrecklich. Zumindest am Anfang gab es da noch ein wenig Fett, das man abspecken konnte, aber bald wurde es richtig grimmig. Das ist auch das Unfaire: Haben diese Arbeitslosen, die jetzt die Zeche zahlen, die Krise etwa in Griechenland verursacht? Mir scheinen diese Arbeitslosen eher vergleichbar mit einer Armee, die man in den Krieg schickt und alle sterben lässt; und die Generäle sehen vom Feldherrnhügel aus zu.

Wie lange lassen sich die Menschen das noch gefallen?

Ich glaube, die politischen Kosten sind hoch genug. Die Depression ist nicht so groß wie in den Dreißigerjahren. Der heutige Wohlfahrtsstaat federt die schlimmsten Folgen der Misere ab, nur wenige Menschen hungern heute tatsächlich, in den Dreißigerjahren war das noch anders. Ich glaube daher, dass es noch viel schlimmer kommen müsste, bevor wir einen politischen Effekt sehen würden. Außerdem: Vielleicht sind wir ja über das Schlimmste hinweg. Was dieses Mal übrig bleibt, ist nicht das Erstehen rechtsextremistischer Bewegungen im großen Stil, sondern das furchtbare moralische Desaster, die Menschen dieser Qual ausgesetzt zu haben, wenn es gleichzeitig möglich gewesen wäre, den Aufschwung viel schneller und solider zusammenzubringen. Zudem: Die Krise hätte auch eine Chance geboten, das System zu überdenken. Aber es gab und gibt einen Mangel an politischer und ökonomischer Kreativität. Das Einzige, was den politischen und ökonomischen Eliten eingefallen ist, um den Wirtschaftsmotor wieder flottzukriegen, war: Der Immobilienmarkt wurde von Neuem aufgebläht und damit die Saat für die nächste Blase gelegt.

Zur Person

Lord Robert Skidelsky gilt als einer der besten Kenner des Ökonomen John Maynard Keynes. Er hat mehrere Bücher über Keynes verfasst. Sein jüngstes Buch: "Wie viel ist genug?", das er mit seinem Sohn Edward geschrieben hat, beschäftigt sich kritisch mit dem Wachstumsparadigma der Ökonomie. Skidelsky hatte auch eine wechselhafte Karriere als Politiker, er war Labour-Mitglied, dann bei den Konservativen, die er aber wieder verließ.