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Ein Blick auf die Welt im Jahr 2060

Von Saskia Blatakes

Wirtschaft

Eine Langzeitstudie der OECD prophezeit einen Einbruch beim globalen Wachstum.


Paris. Es ist ein langer - und damit wohl auch ein mutiger - Blick, den die Experten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in die Zukunft wagen. Denn mit ihrer am Mittwoch in Paris vorgestellten Studie lässt die OECD den gegenwärtigen makroökonomischen Horizont, der in vielen Fällen noch immer bei den mittelfristigen Folgewirkungen der Eurokrise sein Ende findet, weit hinter sich und richtet den Fokus auf ein entfernt liegendes Jahrzehnt. Mit der Studie, die den Titel "Politische Herausforderungen für die nächsten 50 Jahre" trägt, will man einen Ausblick darauf geben, wie die Welt im Jahr 2060 aussehen könnte.

Und diese Welt wird eine andere sein als die, die wir derzeit kennen. Laut den OECD-Experten wird die alternde Bevölkerung der Industriestaaten in Kombination mit dem sich spürbar verlangsamenden Konjunkturwachstum in den großen Schwellenländern zu einem deutlichen Einbruch der globalen Wirtschaftsleistung führen. Für die Jahre zwischen 2050 und 2060 wird nur noch mit einer durchschnittlichen Zunahme von 2,4 Prozent pro Jahr gerechnet. Derzeit liegt das Wachstum noch bei rund 3,6 Prozent.

Alternde Bevölkerung

Trotz der spürbaren Abkühlung in den Emerging Markets geht die Studie aber davon aus, dass sich die Einkommensunterschiede zwischen den Industriestaaten und einigen wesentlichen Schwellenländern deutlich verringern werden. Was in den weniger entwickelten Staaten zur weiteren Stärkung der bereits entstehende Mittelschicht beiträgt, dürfte sich aber für Europa und die USA zu einem Problem entwickeln. Denn mit den steigenden Löhnen sinkt auch die Motivation, sein wirtschaftliches Glück im Ausland zu suchen. Die OECD-Experten gehen davon aus, dass die abnehmende Migration im Verbund mit den alternden Gesellschaften zu einer massiven Schrumpfung der erwerbsfähigen Bevölkerung in den reichen Ländern führt. Verglichen mit dem heutigen Stand wird für die USA ein Einbruch von 20 Prozent prognostiziert, für Europa von 15 Prozent.

Vom erwarteten Arbeitskräftemangel dürften aber nicht alle im gleichen Ausmaß profitieren, sondern nur die gut Ausgebildeten. So rechnet die OECD damit, dass die Einkommensungleichheit in den Industriestaaten bis 2060 nochmals um durchschnittlich 30 Prozent zulegen wird. Überproportional stark dürften dabei Griechenland, aber auch Deutschland betroffen sein.

Die schwindende Bedeutung der westlichen Nationen wird sich nach Meinung der OECD auch in den globalen Handelstrukturen niederschlagen. So wird der Aufholprozess der Schwellenländer dazu führen, dass 2060 bereits mehr wirtschaftliche Transaktionen zwischen Nicht-OECD-Staaten getätigt werden, als innerhalb des Staatenverbunds.

Macht das BIP glücklich?

Doch wie sinnvoll sind die derartige Langzeitprognosen eigentlich? Die OECD betont zwar, dass in der Studie nur Szenarien ausgelotet werden, die dann eintreffen könnten, wenn sich die wirtschaftlichen Trends so fortsetzen wie bisher. Doch wie gering die Halbwertzeit selbst der gewissenhaftest ausgearbeiteten Szenarien sein kann, beweist schon der Blick in die Vergangenheit. Wer hätte etwa vor 50 Jahren den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas oder den Zerfall der Sowjetunion voraussagen können?

Die EU, die ebenfalls den Blick in die Zukunft wagt, aber bis jetzt keinen umfassenderen Bericht herausgebracht hat, beschränkt sich bei ihren Prognosen dementsprechend nur auf einzelne Themengebiete und einen Zeitraum von 10 bis maximal 25 Jahren. Manche Ökonomen halten aber schon den Blick ins nächste Jahr für Kaffeesatzleserei. "Warum wir für das kommende Jahr keine Aussagen machen wollen? Wir wissen nichts darüber", sagte etwa der Chef des Deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts, Claus Zimmermann, unlängst in einem Gespräch mit dem "Spiegel".

Unter Ökonomen umstritten ist die OECD-Studie aber noch aus einem weiteren Grund: Sie basiert auf dem Vergleich von Kaufkraftparitäten in Bezug zum amerikanischen Dollar. Die realen Wechselkurs-Verhältnisse werden außer Acht gelassen. Das weltwirtschaftliche Gewicht von Schwellenländern werde also übertrieben, heißt es.

Kritisiert werden derartige Langzeitstudien zudem auch, weil sie vor allem auf makroökonomische Indikatoren, wie etwa das BIP-Wachstum, als Gradmesser des Fortschritts fokussieren. Die BIP-Gläubigkeit hat dabei eine lange Tradition. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Siegeszug des BIP als Indikator für Entwicklung, zugleich wurde aber ein breiterer Blick auf die Problematik verstellt. Denn mit dem Fokus auf einige wenige wirtschaftliche Kennzahlen lässt sich zwar die materielle Komponente des Wohlstands international vergleichen, die verschiedenen Dimensionen von Fortschritt und Lebensqualität lassen sich aber nach Meinung vieler Experten nur ungenügend abbilden. Außerdem werden negative externe Effekte des Wirtschaftens ausgeklammert, wie die Schädigung von Umwelt und Klima und der Verbrauch von nicht nachwachsenden Ressourcen.

Bereits 1968 warnte John F. Kennedy in seiner Rede über den "wahren Reichtum der Nationen": "Zu unserem Bruttosozialprodukt zählen auch Luftverschmutzung und Krankenwagen, die sich um tödliche Unfälle auf unseren Autobahnen kümmern. Es umfasst die Zerstörung der Wälder und wächst mit der Produktion von Napalm und nuklearen Sprengköpfen. Aber es erfasst nicht die Gesundheit unserer Kinder oder die Qualität ihrer Ausbildung und nicht die Freude ihres Spielens. Es beinhaltet weder die Schönheit unserer Dichtung, die Intelligenz der politischen Diskussionen und nicht die Integrität unserer Amtsträger. Es misst weder unseren Mut, noch unsere Weisheit, noch unser Mitgefühl. Kurz gesagt misst es alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht."

Die Debatte um Alternativen zum BIP wird nicht zuletzt seit der Finanzkrise mit neuer Leidenschaft und neuen Ideen geführt. Besonders prominent wurde dabei Bhutan, das sich seit Jahren zum "Bruttonationalglück" bekennt. Der Ausdruck wurde 1979 vom damaligen König Jigme Singye Wangchuck geprägt und gewann in den letzten Jahren neuen Aufwind. Der bhutanische Index basiert im Wesentlichen auf den vier Säulen nachhaltige Entwicklung, Bewahrung der Kultur, Umweltschutz und gute Regierungsführung. Auch Bolivien und Ecuador folgen dem Beispiel Bhutans, verzichten seit einigen Jahren auf das BIP und messen lieber das Buen Vivir - das gute Leben.

Eine Frage des Fußabdrucks

Global gesehen ist der Human Development Index der Vereinten Nationen der wichtigste alternative Indikator. Er verwendet zwar auch das BIP, berücksichtigt aber auch Werte wie Lebenserwartung und Bildungsgrad. Die USA und Europa weisen demzufolge eine "sehr hohe Entwicklung" auf, China und Indien finden sich nur im Mittelfeld. Interessant sind auch die Ergebnisse des Happy Planet Index der britischen Denkfabrik New Economics Foundation. Er kombiniert Lebenszufriedenheit, Lebenserwartung und den ökologischen Fußabdruck. Die Top Ten werden dabei von südamerikanischen Ländern dominiert, Österreich landet auf Platz 48, die USA auf Platz 105.