Zum Hauptinhalt springen

"USA sind in Teufelskreis gefangen"

Von Thomas Seifert aus Alpbach

Wirtschaft
Jeffrey Sachs ist sicher, dass sich der Fokus der Welt vom Atlantik zum Pazifik verschiebt.
© Luiza Puiu

US-Ökonom Sachs über wachsendes Vermögens- und Machtungleichgewicht.


"Wiener Zeitung": Die Demokratie ist in der Krise, der Kapitalismus, das System der Institutionen des globalen Regierens - sowohl der UN-Sicherheitsrat, der nicht mehr zeitgemäß ist, als auch die Bretton-Woods-Organisationen wie Weltbank und Währungsfonds, die von den Schwellenländern als unzeitgemäß erachtet werden.

Jeffrey D. Sachs: Vergessen Sie nicht die globale Umweltkrise.

Absolut. Wie können Regierungen die Vielzahl an Krisen bewältigen?

Die gute Nachricht: Wir leben auch in einer Ära des unglaublichen technologischen Fortschritts, der uns neue Hilfsmittel und Lösungen für viele alte Probleme in die Hand gibt. Wir stehen nämlich nicht fundamental unlösbaren Problemen gegenüber, sondern es mangelt schlicht an Kooperationsgeist auf unserem Planeten. Und dann ist da noch die Herausforderung, dass wir die wirklichen Probleme erkennen und uns über Lösungen verständigen können. Was bis jetzt nicht passiert. Wir haben keine gemeinsame Diagnose und wir haben auch keine gemeinsame Strategie zur Implementierung von Lösungen.

Welche Rolle spielt die Tatsache, dass das westliche Modell global an Strahlkraft verloren hat?

Einige Teile der kapitalistischen Welt funktionieren doch wirklich sehr gut. Wenn Sie an Österreich, Deutschland und Nordeuropa denken, würde ich sagen, dass es nicht allzu viel Grund zur Klage gibt. Dieser Teil der Welt ist der demokratischste, wohlhabendste, sozial stabilste und umweltbewussteste Flecken auf diesem Planeten. Bei den USA sehe ich viel mehr Probleme. Technologisch sind die USA immer noch der spannendste Ort der Welt, dieses Land hat uns die IT-Revolution gebracht. Aber durch die dysfunktionale Politik in Washington und steigende soziale Ungleichheit im Land sind die USA fürwahr kein Rollenmodell für die Welt mehr, sondern eine Warnung. Zudem hat Amerika den Willen verloren, einen Führungsanspruch in vielen Bereichen zu stellen.

Ist diese Entwicklung der "Niedergang des Westens" oder der "Aufstieg der Anderen" oder beides?

Die Epoche der westlichen Dominanz des Weltsystems, die circa 250 Jahre gedauert hat, kommt nun zu einem Ende. Der Schwerpunkt der Welt verschiebt sich vom Nordatlantik zum Pazifik, nach Asien und zum Indischen Ozean. Und das ist keine Kleinigkeit, sondern ein historischer Wandel: Letztlich markiert dieser Punkt in der Geschichte den Abschied vom Zeitalter der Industriellen Revolution. Und eine derart große historische Umwälzung hat etwas Beunruhigendes, Verstörendes. Und zwar deshalb, weil wir wissen, dass bisher jede große Verschiebung von Macht in den letzten eineinhalb Jahrhunderten uns Krieg gebracht hat. Gegen dieses sehr offensichtliche Risiko müssen wir uns wappnen. Der Aufstieg Chinas darf kein Grund für eine Militarisierung und einen neuen Rüstungswettlauf werden. Eine weitere Dimension: Die auf uns zukommende Umweltkrise ist in der Menschheitsgeschichte beispiellos. Bei früheren Umweltkrisen hat die Menschheit immer einen Ausweg gefunden, indem neue Gegenden besiedelt wurden oder Ähnliches. Heute besteht diese Möglichkeit nicht, wir haben sozusagen die Grenzen des Planeten erreicht.

Das klingt nicht sehr erfreulich.

Es gibt dennoch Grund zur Hoffnung: Es gibt gute und relativ billige Lösungen für diese Fragen. Die schlechte Nachricht: Es gibt keine Institutionen, die diese Lösungen auf globaler Ebene implementieren könnten.

Der Präsident des europäischen Forums Alpbach, Franz Fischler, plädiert für neue Werte im Wirtschaftssystem. Unterstützen Sie diese Forderung?

Ja. Wir müssen das Konzept der nachhaltigen Entwicklung - die es schon seit einem Vierteljahrhundert gibt - als Organisationsprinzip sehen. Soll heißen: Das bloße Starren auf das Bruttoinlandsprodukt, das die wirtschaftliche Performance einer Volkswirtschaft misst, ist zu wenig. Die Frage müsste sein: Was ist den Menschen wichtig? Wir müssen realistischer sein und ein breiteres Spektrum von menschlichen Bedürfnissen betrachten. Wir müssen uns Fragen stellen wie: Was hält unsere Gesellschaft zusammen? Bekämpfen wir die soziale Ungleichheit? Schützen wir den Planeten? Helfen wir den Bedürftigen? Im kommenden Jahr werden die Vereinten Nationen nachhaltige Entwicklungsziele als globales Konzept verabschieden. Darin setze ich viel Hoffnung: Es ist wunderbar, wenn man 193 Regierungen zeigen kann, dass ein holistischer Zugang von ökonomischen, sozialen und Umwelt-Zielen Sinn macht.

Wer übernimmt diese globale Führungsrolle?

Die beste Antwort, die ich Ihnen geben kann, ist folgende: Es gibt eine Reihe von erstklassigen Orchestern auf der Welt, die keinen Dirigenten haben - meist sind das Kammerorchester. Sie haben keinen Dirigenten, der da vorne steht. Und in der Weltpolitik: Da gibt es keine globale Führungsnation, keine globale Führungsfigur. Nicht die Vereinigten Staaten, nicht China, aber auch nicht der Generalsekretär der Vereinten Nationen, der US-Präsident oder der EU-Rats- oder Kommissionspräsident. Wir leben in einer komplexen Netzwerk-Welt, in auf der es keine Führer mehr gibt. Was es aber sehr wohl gibt: eine globale Wissenschafts-Community, globale Technologie-Standards, die etwa das Internet in jedes Dorf und in jede Ecke der Welt bringen. Es bleibt uns also nur zu hoffen, dass jeder dasselbe Notenblatt vor sich hat. Aber jeder spielt nach seinen eigenen Fähigkeiten. Anstatt auf den Dirigenten zu starren, blickt man auf die Nachbarn im Orchester. Wir müssen richtig spielen, auch wenn uns niemand dirigiert.

Sie haben die soziale Dimension einer nachhaltigen Wirtschaft erwähnt. Wir stehen vor einer Krise wachsender Ungleichheit. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat die Einführung einer globalen Vermögenssteuer zur Verringerung der sozialen Ungleichheit vorgeschlagen. Was halten Sie davon?

Die sozialen Marktwirtschaften wie Deutschland, Schweden, Österreich, Dänemark oder Norwegen sind nicht von extremer sozialer Ungleichheit geplagt, wie das bei den USA der Fall ist. Was wir brauchen, ist eine gerechte, soziale und keine enthemmte, libertäre Marktwirtschaft. Das heißt, dass die Rolle des Staates und der Transferleistungen signifikant sein sollte, sie sollte bei vielleicht 40 Prozent des Bruttosozialprodukts liegen. In den USA sind es nur 30 Prozent plus wir haben in den Vereinigten Staaten ein ineffizientes Transfersystem, also ziehen der Reichen immer mehr davon und die Armen fallen unten heraus. Ein kapitalistisches System birgt auch die Gefahr in sich, dass Big Business die Regierung in der Tasche hat. Politische Kampagnen auf nationaler Ebene kosten in den USA zwischen acht und zehn Milliarden Dollar. Das bedeutet, dass die Reichen das politische System immer mehr dominieren, sie verabschieden die Gesetze, die sie noch reicher machen, und sie lassen die Armen hinter sich. Die USA sind in einem Teufelskreis gefangen: Größere Ungleichheit von Vermögen führt zu einer größeren Ungleichheit von Macht, die dann zu einer noch größeren Ungleichheit vom Vermögen führt. Die soziale Marktwirtschaft und der Wohlfahrtsstaat sind dazu ein Gegenmodell. Das ist zwar auch nicht perfekt, muss ständig renoviert werden, aber es ist viel besser als das US-Modell, das die Reichen reicher macht und in dem die Armen unterdrückt werden.

Sie scheinen - je älter sie wurden - immer weiter nach links gerückt zu sein.

Ich war immer sehr vom europäischen Sozialstaat angetan. Aber ich wurde mit meinen Ratschlägen, die ich in Osteuropa nach 1989 gegeben habe, als Advokat des freien Markts missverstanden. 1989 wurde ich von der polnischen Regierung um Rat gefragt. Meine Antwort lautete damals: Einführung eines Markt-Systems, Abkehr von Preiskontrollen, Einführung einer konvertiblen Währung. Ob Polen also in Richtung USA oder Schweden tendieren sollte, diese ersten Schritte waren in jedem Fall dieselben. Was ich aber zur Beantwortung Ihrer Frage sagen kann: Die USA sind in den vergangenen Jahren immer weiter nach rechts gerückt, daher finde ich mich immer mehr in der Mitte.

Was halten Sie von TTIP, dem Transatlantischen Handels- und Investment-Abkommen?

Da bin ich eher misstrauisch. Erstens sind die Verhandlungen geheim, zweitens werden sie von sehr mächtigen Lobbys vorangetrieben. Ich glaube nicht, dass sie genug auf Umweltziele, soziale Ziele und Transparenz abzielen. Ein weiteres Handelsabkommen, das nur den Investoren mehr Macht gibt, geht in die falsche Richtung. Ein Abkommen, das die soziale Basis, die Umwelt-Normen und Transparenz-Regeln stärkt, ginge in die richtige Richtung.

Zur Person:

Jeffrey D. Sachs

Geboren 1954 in Detroit, ist ein US-Ökonom und seit 2002 Sonderberater der UN-Millennium-Entwicklungsziele. Beim diesjährigen Europäischen Forum Alpbach spricht er zu Themen wie soziale Ungleichheit und Klimawandel sowie die Zukunft der europäischen Wirtschaft.