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Ein Drittel des Atlantik-Handels machen sich die Großkonzerne selbst

Von Reinhard Göweil

Wirtschaft

Sogenannter "Intercompany-Trade" zwischen EU und USA bestimmt die Warenströme.


Wien/Brüssel. Kürzel gelten unter Journalisten als Leservertreibungsprogramm erster Güte. Nun gibt es eine Ausnahme, TTIP, lautmalerisch flüssig als "Titip" ausgesprochen. Das dermaßen verkürzte Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, das seinen Namen von "Transatlantic Trade and Investment Partnership" ableitet, emotionalisiert in ungeheurem Ausmaß. 800.000 Europäer haben bisher eine EU-weite Resolution dagegen unterschrieben, das ist nicht wenig für das sperrige Thema. Das ist sicherlich dem Chlorhuhn zuzuschreiben, das nach Unterzeichnung des in Verhandlung befindlichen Abkommens in Europa verkauft werden dürfen soll.

Für die Verhandler in Brüssel und Washington kam dies anfangs überraschend, denn in Zahlen spielt das Chlorhuhn kaum eine Rolle. Es geht im transatlantischen Handel um zwei Milliarden Euro Handelsvolumen von Gütern und Dienstleistungen, täglich wohlgemerkt - mit einem leichten Überschuss für die europäische Seite. Die Geflügelimporte aus den USA würden im besten Fall etwa 500.000 Euro ausmachen, ebenfalls täglich, um es mit den zwei Milliarden in Relation zu setzen.

Schiedsgerichte

Dass chlorbehandelte US-Hühner nicht ungesünder sind als Salmonellen-verseuchtes Federvieh aus Europa, beginnt sich langsam herumzusprechen. Die Debatte verlagert sich zusehends zum sogenannten Investitionsschutzabkommen, einem Teil des "Titip". Es sieht vor, dass Schiedsgerichte private Investoren gegen staatliche Maßnahmen in Schutz nehmen können, wenn es sich um Enteignung im weitesten Sinn handelt. Bei solchen Schiedsgerichten handelt es sich um private Anwälte, die jeweiligen Gerichte der Länder werden nicht befasst. Ein unzumutbarer Eingriff in die rechtsstaatliche Struktur, so die Kritik der TTIP-Gegner.

Auch dieses Argument ist ein zweischneidiges Schwert. Dass US-Konzerne Vorbehalte gegen die Gerichtsbarkeit im EU-Mitglied Bulgarien haben, ist schwer zu entkräften. Deutschen und österreichischen Unternehmen geht es nicht viel anders. Auf der anderen Seite gibt es den Fall des New Yorker Richters, der einem Hedge-Fonds-Manager bei Argentinien-Anleihen recht gab und damit gerade ein ganzes Land in die Pleite schickt. Vorbehalte gegen US-Gerichte sind also auf europäischer Seite ebenso vorhanden.

Milliarden-Investitionen...

Über den wahren Grund von TTIP wird trotzdem vergleichsweise wenig gesprochen, denn der spielt sich tatsächlich im Verborgenen ab. Es kommt die Welt der Lobbyisten ins Spiel, und zwar der wirklich wichtigen Lobbyisten. Die Welt der Weltkonzerne, die in Brüssel und Washington Globalisierung feiert. Von bestechender Offenheit war vorige Woche bei der (brechend vollen) TTIP-Publikumsdiskussion im Wiener Europa-Haus der Gesandte der US-Botschaft, Lee Brudvig. "Wir sollten in der Debatte den Intercompany-Trade zwischen den USA und der EU nicht vergessen, der klare Spielregeln benötigt und durch das Abkommen abgesichert ird. Es geht dabei um sehr viele Arbeitsplätze."

Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung in Deutschland beziffert den transatlantischen konzerninternen Handel mit einem Drittel des gesamten Handels-Volumens. Das wären etwa 240 Milliarden Euro, das entspricht in etwa der gesamten Wirtschaftsleistung Dänemarks. Unternehmen, die sowohl in den USA als auch in der EU tätig sind, verschiffen jährlich Ex- und Importe in dieser Größenordnung innerhalb der jeweiligen Gruppe. Das hat allerdings wenig mit freiem Wettbewerb konkurrenzfähiger Produkte auf offenen Märkten zu tun. Die Arbeitsteilung der Konzerne erfolgt nach anderen Gesichtspunkten.

...stammen von Großinvestoren

Zudem haben diese multinationalen Konzerne oftmals dieselben Groß-Aktionäre, die sich ebenfalls beidseits des Atlantiks finden. Die Top-Exporteure Deutschlands in die USA heißen: Daimler, Volkswagen, BMW, BASF. Vom Chemiekonzern BASF befinden sich 20 Prozent des Aktienkapitals in US-Händen, bei Daimler sind es 25 Prozent, bei BMW etwa 14 Prozent.

Umgekehrt finden sich unter den 50 forschungsintensivsten Unternehmen in Europa 19 aus den USA - und nur 16 aus Europa. Microsoft, Pfizer und der Markenartikel-Konzern Johnson & Johnson (Penaten, Piz Buin, OB) führen die Rangliste an. Pfizer hat etwa sechs Prozent EU-Aktionäre, der drittgrößte Investor von Johnson & Johnson sitzt in der Schweiz.

Und auf dieser Ebene verschieben sich die Relationen deutlich, es geht hier nicht nur um freien Handel, sondern um die Absicherung von Investitionen. Etwa 1600 Milliarden Euro haben europäische Konzerne in den USA investiert, umgekehrt haben die Amerikaner etwa 2100 Milliarden in den EU-Staaten investiert.

Das entspricht etwa der Wirtschaftsleistung Frankreichs, und die Absicherung dieser ungeheuren Summe ist den Konzernen und deren Großaktionären natürlich etwas wert, wie Abgeordnete im US-Kongress und im Europäischen Parlament zu berichten wissen.

Im Angesicht dieser Zahlen mutet eine Story auf der Homepage der EU-Kommission absurd an: TTIP sei hilfreich für Klein- und Mittelunternehmen, heißt es in einem eigenen Button. "Von Klavierbauern bis Artischocken", so die digitale Botschaft, würde ein Freihandelsabkommen europäische Start-ups in den USA begünstigen.

Schon wieder Luxemburg

Die Zahlen von Eurostat sprechen allerdings eine andere Sprache. Der größte Auslands-Investor der EU ist Luxemburg, ein Drittel sämtlicher EU-Investitionen außerhalb der Union entfallen auf das kleine Großherzogtum mit 550.000 Einwohnern. Auf Deutschland beispielsweise entfallen zehn Prozent, auf Großbritannien mit dem Finanzplatz London 17 Prozent. "Bermuda, die USA und die Schweiz sind die drei Top-Destinationen für Auslandsinvestitionen aus Luxemburg und zeigen die Wichtigkeit des Finanzsektors für dieses Land", schreibt Eurostat trocken.

Die Statistik zeigt, wo TTIP wohnt: "Guardian Industries Corp., Amazon, Millicom, Paypal, Apple iTunes, Rakuten, DuPont Teijin Films, Fanuc Robotics, Skype und Delphi sind nur einige Beispiele für internationale Unternehmen, die Luxemburg als Geschäftssitz für ihre Europa-Aktivitäten gewählt haben. Sie gesellen sich zu so illustren Namen wie ArcelorMittal, dem größten Stahlproduzenten der Welt, der Société Européenne des Satellites (SES), einem weltweit führenden Unternehmen der Telekommunikationsbranche, der Cargolux, dem größten Luftfrachtunternehmen in Europa, oder RTL Group, europäischer Marktführer im audiovisuellen Bereich", schreibt die Agentur zur Förderung des luxemburgischen Finanzplatzes (unter Vorsitz des Finanzministers) stolz auf ihrer Homepage. Luxemburgischer Regierungschef und langjähriger Finanzminister war der jetzige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Luxemburgs wenig solidarisches Steuersparmodell für Multis und diese enormen Summen brachten Juncker nun eine Rücktrittsforderung von den Grünen im Europaparlament ein.

Er hatte zuletzt den umstrittenen Investorenschutz auf Schiedsgericht-Basis in Frage gestellt, doch die USA haben schon eine Antwort darauf. "Die Diskussion um TTIP ist eine sehr gute Gelegenheit, das internationale Schiedsgerichts-Verfahren auf neue Beine zu stellen", sagte Brudvig von der US-Botschaft bei der EU-Veranstaltung in Wien.

Hier wird aber politisch heikles Terrain betreten. Sollten sich die EU und die USA tatsächlich auf eine neue Weltordnung der Schiedsgerichts-Verfahren einigen, hätte dies geopolitische Auswirkungen. Derzeit sind solche Verfahren grundsätzlich einer Kommission unterworfen, die der Weltbank zugeordnet ist, aber nicht direkt zu ihr gehört. Sowohl die Agentur als auch die Weltbank haben den Sitz in Washington DC., was allerorts die Alarmglocken schrillen lässt. "Das ist rechtsstaatlicher Irrsinn", sagte Pia Eberhardt von der Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory (CEO).

TTIP = Geopolitik

Wenn sich allerdings die USA und die EU, die gemeinsam mehr als ein Drittel des Welthandels darstellen, sich auf neues Schiedsgerichtsverfahren einigen, deren Zentrale weder in Washington noch in Brüssel sitzt, könnte der Widerstand aus Europa schmelzen.

Dann allerdings würde er wohl in Peking und Moskau anschwellen, denn es ist schwer vorstellbar, dass sich China und Russland dem Regime unterwerfen wollen. Er wäre dann allerdings Welt-Standard - und was das investierte Kapital an Auslandsinvestitionen betrifft, reichen weder China noch Russland an die EU heran - und auch nicht an die USA. Beide Blöcke vereinen auf sich 60 Prozent der weltweiten Auslandsinvestitionen, der Rest verteilt sich auf alle anderen. Das zeigen die Zahlen der in Paris ansässigen OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit der größten Industrienationen.

Wie nun der auf der EU-Homepage erwähnte spanische Artischocken-Erzeuger in dieses globale TTIP-Spiel passt, erschließt sich daher nicht sofort.

Die Grenzen der Liberalisierung

"Es gibt kaum noch Zölle zwischen EU und USA, sie machen unter vier Prozent aus. Aber das ist für kleinere Unternehmen wichtig", sagte die Handels-Abteilungsleiterin im Wirtschaftsministerium, Gabriela Habermayer, im Europa-Haus.

Eine etwas andere Antwort darauf liefert jemand, der dies in seiner Funktion als Gouverneur der Nationalbank nicht sagen darf und es daher nur als Privatperson in Erinnerung seiner Vergangenheit als Universitätsprofessor für Volkswirtschaft sagte. Ewald Nowotny: "Welchen Grad der Liberalisierung, also der Öffnung der Märkte, will ich als große Gemeinschaft? Das ökosoziale Modell in Europa ist jedenfalls nicht mit einer vollständigen Öffnung zu vereinbaren. Das wird noch eine massive Debatte."

Denn die Globalisierung, die durch Freihandelsabkommen noch weiter getrieben wird, hat laut Nowotny zwei wesentliche Wirkungen: "Bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf verringern die Länder die Unterschiede untereinander. Allerdings ist zu beobachten, dass gleichzeitig die Ungleichheit innerhalb der Länder massiv zunimmt."

Im Klartext bedeutet das, dass der freie Fluss von Investitionen zwar die Wirtschaftsleistung in ärmeren Ländern verbessert, davon aber immer weniger Menschen profitieren. Zwei Beispiele: Google und Apple, beides weltweit operierende US-Unternehmen, verfügen über immense Geldbestände. Geld, das in der ganzen Welt verdient wurde. Bei Google wird 2016 die 100-Milliarden-Dollar-Marke überschritten. Nun fordern Analysten, einen Teil des Geldes an die Aktionäre auszuschütten. Es sind dies überwiegend die beiden Google-Gründer sowie große Investmentfonds.

Nowotny in seinem persönlichen Statement anlässlich seines 70. Geburtstages: "Die Hoffnungen vieler Menschen und die engen Grenzen der Ökonomie driften immer weiter auseinander. Ich bin darüber sehr beunruhigt."

Lee Brudvig von der amerikanischen Botschaft, aber auch Frank Hoffmeister, der in der EU-Kommission eng in die TTIP-Verhandlungen eingebunden ist, sehen dagegen die positiven Effekte. "Es wird dadurch zu mehr Wachstum kommen, und es werden Arbeitsplätze geschaffen. Das Abkommen sollte Anfang 2016 fertig ausverhandelt sein und wird dann zur Abstimmung gestellt."

Die USA jedenfalls machen Druck. Wenn der Zeitplan nicht hält, würde das pazifische Abkommen (mit China) früher fertig sein - und deren Standards würden dann TTIP als Blaupause dienen. Erpressung? Nein, nur Hinweise.