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Räumt euren Dreck selber weg!

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Wirtschaft

Kaum Kinderbetreuung, kaum Hilfe für Alte und Arme: Großbritannien hungert seine Gemeinden aus.


London. Allmählich wird immer mehr Briten klar, was Austerität vor der eigenen Haustür bedeutet. Viele Bibliotheken und Sportanlagen mussten in jüngster Zeit schon schließen. Nun aber läuten die Alarmglocken in den britischen Gemeinden. Nach fünf Jahren drastischer Kürzungen melden Insel-Kommunen, dass sie an den Grenzen des Einsparbaren angekommen sind.

Die Kassen sind leer. Hunderttausende städtischer Angestellter sind landesweit gekündigt worden. Nun werden auch elementare Dienstleistungen eingestellt. Stadt- und Landräte warnen ihre Mitbürger vor "gänzlich neuen Realitäten". Sie sehen eine Form der Gesellschaft voraus, in der nichts mehr läuft ohne Eigenbeteiligung, ohne persönliche Opfer. Wo kommunale Dienste nicht mehr finanzierbar sind, bricht die "Do it yourself"-Ära an.

Mancherorts hat diese Ära schon begonnen. Einer Umfrage des Londoner "Independent" zufolge hat die nordenglische Stadt Darlington ihre Bürger bereits aufgefordert, sich künftig selbst um die Grünanlagen in ihren Vierteln zu kümmern. Da kein Geld mehr für Straßenkehrer da ist, sollen die Leute den Abfall gefälligst selbst einsammeln. Im Winter sollen sie, wenn sie weiter Auto fahren wollen, die städtischen Straßen eigenhändig von Schnee freischaufeln. Nur das Streugut stellt die Gemeinde noch bereit.

Keine warme Mahlzeiten

Im Londoner Stadtteil Barnet will - derselben Umfrage zufolge - die Gemeindeverwaltung aus Geldnot gewisse kommunale Funktionen örtlichen Geschäftsleuten übertragen. In Bury, im Norden Manchesters, bietet eine Firma bereits private Müllentsorgung für 8,40 Pfund pro Haushalt an - nachdem die städtische Müllabfuhr statt einmal in der Woche nur noch alle drei Wochen kommt.

In der Grafschaft Leicestershire ist die Bereitstellung warmer Mahlzeiten in örtlichen Betreuungszentren gestrichen worden. Und in Buckinghamshire werden die meisten Schulbusse eingestellt. Auch in abgelegenen Gegenden sollen Eltern ihre Kinder künftig selbst zur Schule befördern. In West Sussex werden die Bewohner überschwemmungsbedrohter Gebiete künftig selbst und auf eigene Kosten für Schutzmaßnahmen gegen die Fluten sorgen müssen.

Noch würden die meisten seiner Landsleute gar nicht recht begreifen, was ihnen bevorstehe, meint Simon Parker, Direktor des Neuen Netzverbundes britischer Kommunen. Aber das werde sich noch heuer sehr schnell ändern. Bald werde man sich daran gewöhnen müssen, "dass es immer mehr Dreck auf unseren Straßen gibt" - und dass sich Parkanlagen sehr schnell "in wild wuchernde Wiesen verwandeln werden".

Grund für den Alarm ist die katastrophale Finanzlage der Gemeinden. Seit Mai 2010 hat die konservativ-liberale Koalition unter David Cameron nicht nur die Kommunalsteuern nahezu eingefroren. Sie hat auch die staatlichen Zuwendungen an die Gemeinden auf drakonische Weise reduziert. Fast 40 Prozent ihrer Subventionen durch Westminster haben die Kommunen seither eingebüßt. Um ein Viertel haben sie ihre Ausgaben vermindern müssen. Von dem aber, was ihnen an staatlichen Zuwendungen geblieben ist, soll in den nächsten fünf Jahren noch einmal ein Großteil draufgehen - sofern Cameron in diesem Mai wieder gewählt wird und weitere Kürzungspläne bis 2020 durchsetzen kann.

Familie muss Alten helfen

Bisher, erklären Parker und andere Sprecher der Kommunalverwaltungen, sei es den meisten Gemeinden noch gelungen, sich mit Hilfe von Personalabbau, diversen Sparmanövern und Schließungen einzelner Einrichtungen über Wasser zu halten. Heuer aber gehe es "ans Mark". Hilfe für Alte und Arme, Kinderschutz, Kinderbetreuung und elementare Dienstleistungen seien nun immer schwieriger abzudecken.

Der Altenhilfsorganisation Age UK zufolge ist schon in den vergangenen drei Jahren die "Essen auf Rädern"-Versorgung als kommunale Dienstleistung im Land um 63 Prozent reduziert worden. Die Zahl kommunaler Tagespflegeplätze für bedürftige Alte soll sogar um 67 Prozent gesunken sein. Die Alten müssen künftig daheim bleiben - und ihre Familien um Hilfe bitten.

Das stimmt auch konservative Kommunalpolitiker wie David Hodge, den Chef des Grafschaftsrats von Surrey, nachdenklich. "Man kann kommunale Selbstverwaltung nicht endlos einschrumpfen", meint er besorgt. Wenn diese Entwicklung weiter toleriert werde, klagen Stadträte, werde man bald in einem Land sehr viel anderer Art als bisher leben. Nämlich in einer Nation mit wachsendem Wohlstand in der Hand einer kleinen Gruppe privilegierter Bürger, die sich private Abhilfe leisten können - und totaler Verelendung des öffentlichen Sektors, auf den die Mittellosen angewiesen sind.