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Sucht nach russischem Gas

Von WZ-Korrespondent Silviu Mihai

Wirtschaft

Politiker in Ungarn oder Bulgarien sehen Energiewende skeptisch - das könnte an Korruption liegen.


Budapest/Sofia/Bukarest. "Wenn wir darauf warten müssen, dass die EU für bezahlbare Energiepreise sorgt, wird es lange dauern. Ich werde wohl in Pension sein, ehe das passiert", mokiert sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Der Rechtspopulist in Budapest wurde im Vorjahr nach einem Wahlkampf wiedergewählt, in dem das Hauptthema die Energieversorgung war: Die Preise von Strom, Gas und Heizung seien in den vergangenen Jahren so dramatisch gestiegen, dass die durchschnittliche ungarische Familie die Rechnungen kaum bezahlen könnte, behaupteten immer wieder die Vertreter der Regierungspartei Fidesz.

Orbáns Lösung für dieses Problem schien kohärent mit seiner sonstigen "unorthodoxen" Wirtschaftspolitik zu sein. Unter dem Motto "Senkung der Nebenkosten" verabschiedete das ungarische Parlament auf Initiative der Regierung seit Ende 2012 bereits dreimal Gesetze, die den Strom-, Fernheizungs- und Gasversorgern Preissenkungen aufzwingen. Stadtwerke und Privatunternehmen, auch ausländische Konzerne wie RWE und E.On (Deutschland) oder die Gas de France und EDF (Frankreich) mussten bisher Abschläge von mehr als 20 Prozent hinnehmen, die auf den Rechnungen der Endverbraucher separat als Gutschrift gekennzeichnet werden müssen. Einige dieser Unternehmen, etwa E.On, entschieden sich daraufhin, Ungarn den Rücken zu kehren.

Wettbewerbsrechtliches Verfahren versickert

Wenig überraschend verkündete die EU-Kommission Ende 2013, die Zulässigkeit solcher Maßnahmen und deren Vereinbarkeit mit dem europäischen Marktrecht prüfen zu wollen. Doch seitdem war von diesem wettbewerbsrechtlichen Verfahren wenig zu hören. Ungarns Premier reagierte trotzig: "Wir wissen, dass wir nicht die Lieblinge der internationalen Monopole sind und auch nicht die Lieblinge der Brüsseler Bürokraten, die den gierigen Energieunternehmen dienen." Die neue Amtszeit stehe im Zeichen des Kampfs um die Nebenkostensenkungen, erklärte Orbán pompös nach dem Wahlsieg 2014.

Für die Entwicklung der erneuerbaren Energien erwiesen sich diese populistischen Maßnahmen als fatal. Seit fünf Jahren bewegt sich in dem Bereich nichts mehr. Offiziell hat die Regierung auf die angekündigte "Untersuchung und Reform" des gesetzlichen Rahmens nicht verzichtet, inoffiziell ist allen wichtigen Akteuren klar, dass das einem Stopp aller neuen Projekte gleichkommt. "Interessant ist, dass nicht nur die Projekte der ‚bösen‘ westeuropäischen Konzerne, sondern auch die Initiativen von kleinen oder mittelständischen, zu 100 Prozent ungarischen Unternehmen auf Eis gelegt werden mussten", stellt Oppositionspolitiker Benedek Jávor fest. Der Abgeordnete ist Co-Vorsitzender der grünen Partei "Dialog für Ungarn" (Párbeszéd Magyarországért, oder PM). "Orbán hält die Erneuerbaren für einen teuren linken Spaß, den niemand braucht. Stattdessen setzt er ganz klar auf Kernenergie und russisches Gas", erklärt Jávor.

Kein neues Solar- oder Windprojekt seit drei Jahren

In der Tat ging in den vergangenen drei Jahren kein einziges Solar- oder Windenergieprojekt ans ungarische Stromnetz. Selbst die Betreiber von Biomasseanlagen, die oft kleine einheimische Unternehmer sind, konnten seit dem offiziellen Strategiewechsel kaum zulegen. Mit einer Gesamtleistung von rund 1000 MW deckt der ganze Sektor der Erneuerbaren immer noch unter 5 Prozent des ungarischen Stromverbrauchs, weit unter dem Landesziel von 15 Prozent, das seinerseits angesichts des Potenzials kaum als ambitioniert bezeichnet werden kann. "Es ist inzwischen klar geworden, dass unter dieser Regierung keine weiteren Projekte möglich sind", sagt Éva Brand, Geschäftsführerin bei Iberdrola Ungarn. Das spanische Unternehmen besitzt den größten Anteil auf dem ungarischen Markt für Windenergie.

Zwar forderte die EU-Kommission mehrmals, dass die ungarische Regierung die erforderlichen Maßnahmen ergreift, damit das Land sein EU-Ziel für 2020 punkto Erneuerbarer Energien erreicht, doch bisher wurden keine Sanktionen verhängt. Derweilen schafft Premier Orbán Fakten: Während eines überraschenden Moskaubesuchs Anfang 2014 verkündete er die Unterzeichnung eines Abkommens, das den gesamten ungarischen Energiesektor grundlegend verändert. Mit einem 10-Milliarden-Euro-Kredit aus Russland soll das einzige ungarische AKW in Paks um zwei neue Reaktoren mit jeweils 1200 MW ausgeweitet werden. Das würde die Gesamtleistung des Landes um mehr als ein Viertel erhöhen und wäre bei Weitem das größte Projekt des ungarischen Staates seit der Wende. Die Ausführung soll der staatliche russische Konzern Rosatom übernehmen.

Zivilgesellschaft kritisiert ungarische Atompläne

Weite Teile der Zivilgesellschaft kritisierten vehement die Pläne der Regierung als unverantwortlich und unzeitgemäß - zuletzt vor drei Wochen, im Vorfeld des Budapest-Besuchs von Wladimir Putin. Und die linke Opposition denunzierte den Schritt als eine Erhöhung jener wirtschaftlichen Abhängigkeit des Landes, die Orbán zu senken versprach. Zwar könnte die EU-Kommission das Abkommen aus wettbewerbsrechtlichen Gründen kippen, da die MVM Paksi Erömü Zrt, jene Aktiengesellschaft, die das AKW in Paks betreibt, in staatlicher Hand ist und der geplante Ausbau nicht ausgeschrieben wurde. Doch Orbáns Regierung hat in den vergangenen Jahren mehrmals gezeigt, dass sie sich im Streit mit Brüssel mit nur minimalen Kompromissen am Ende doch durchsetzen kann.

In Budapest unterhielten sich Orbán und Putin auch über einen möglichen Ersatz für das gescheiterte South-Stream-Projekt. Die Pipeline hätte russisches Gas über das Schwarze Meer, Bulgarien, Serbien und Ungarn nach Mitteleuropa transportieren sollen. Der Kreml-kontrollierte Konzern Gazprom musste im vergangenen Herbst die bereits fortgeschrittenen Baupläne für diese Leitung aufgeben, nachdem die EU-Kommission starke politische und wettbewerbsrechtliche Bedenken meldete und Bulgarien zu einem Baustopp zwang. Dennoch verzichtete der ungarische Premier offenbar nicht auf die Idee, eine Pipeline-Lösung unter Umgehung der Ukraine zu suchen.

Finanzielle Vorteile für Parteiklientel?

Die europäischen Sanktionen gegen Putin seien insofern nicht im ungarischen Interesse, auch wenn man sie aus Solidarität mit den EU-Partnern mittrage: "Es geht um die Heizungsrechnung ungarischer Familien, ausländische Journalisten sollten Verständnis zeigen", heißt es aus Budapest. Doch Opposition und Zivilgesellschaft vermuten, dass es um andere Motive handelt: Der ungarische Staat kauft nämlich bereits heute russisches Gas nicht nur direkt von Gazprom, sondern auch in Österreich und Deutschland, wo der Konzern den Rohstoff viel günstiger anbietet, als in Osteuropa. Orbán-Gegner warnten deswegen vor einem neuen Verlustgeschäft, das der Premier eingehen könnte, um den "Brüsseler Bürokraten" zu trotzen und dabei seiner Parteiklientel finanzielle Vorteile zu verschaffen.

Denn ein Skandal, der neulich von ungarischen investigativen Journalisten aufgedeckt wurde, wirft brisante Fragen auf: Ungarn importiert nämlich russisches Gas aus Mitteleuropa über die schweizerische MET Holding AG. Dem Unternehmen mit Hauptsitz in Zug und Filialen in mehreren osteuropäischen Ländern wird praktisch seit Jahren ein Monopol über die Nutzung der Pipelines im Westen des Landes garantiert. Den Preisunterschied kassieren ungarischen Medienberichten zufolge vor allem die Aktionäre der MET AG: Geschäftsleute aus der Entourage des Premiers. "Hinter der rechtspopulistischen Rhetorik steckt eigentlich reines finanzielles Interesse einer Oligarchie", kritisiert Aktivist Balázs Gulyás, einer der Organisatoren der jüngsten Proteste in Budapest.

Wie dem auch sei - die neue Tendenz, weg von den Erneuerbaren, zurück zum Konventionellen, scheint nicht nur für Ungarn, sondern für die ganze Region typisch zu sein. So deckelte auch das bulgarische Kabinett den Ausbau der erneuerbaren Energien. Das südosteuropäische Land wird, anders als Ungarn, von einer wirtschaftsliberalen Koalition regiert. Doch Ministerpräsident Bojko Borissow weiß aus eigener Erfahrung, dass das Thema Energiepreise ein heikles ist: 2013 musste er eben deswegen zurücktreten. Hintergrund der damaligen politischen Krise waren massive Proteste gegen zu hohe Stromrechnungen, sowie gegen ausländische Energiekonzerne, die sich das bulgarische Territorium teilen und jeweils eine regionale Monopolstellung genießen. Infolge dieser Proteste gaben Politiker beider Lager den erneuerbaren Energien die Schuld für die Preiserhöhungen.

Nachteiligere Bestimmungen für erneuerbare Energien

Ein Gesetz, das eine Sondersteuer von 20 Prozent auf den Umsatz der Betreiber von Solar- oder Windanlagen einführt, wurde Ende 2013 durch das Parlament verabschiedet. Das Verfassungsgericht kippte es vor einigen Monaten, doch andere für eine wahre Energiewende ungünstigen Bestimmungen bleiben bestehen. Seit 2011 wurden etwa die Förderbedingungen und andere Spielregeln mehrmals nachträglich geändert, was den Investoren einen Strich durch die Rechnung machte. Dabei verfügte Bulgarien über einen der attraktivsten gesetzlichen Rahmen für die Förderung erneuerbarer Energien. Ministerpräsident Borissow bevorzugt stattdessen den Ausbau des Pannen-AKW in Kosloduj, mit dem ebenfalls das russische Konzern Rosatom beauftragt wurde. Vor kurzem beschwerte er sich erneut, dass das Scheitern von South Stream Bulgariens Energiesicherheit in höchstem Maße gefährde. Doch auch in Sofia warnen Zivilgesellschaftsorganisationen seit Jahren, dass die eigentliche Gefahr die intransparenten Energiedeals der Politiker sind.

Selbst in Rumänien, das mit seiner Schwarzmeerküste und seinem großzügigen Fördersystem noch vor wenigen Jahren als Paradies für Wind und Sonne galt, hat das Parlament Anfang 2014 auf Regierungsinitiative erste Einschränkungen eingeführt. So bekommen Anlagebetreiber die grünen Zertifikate später als ursprünglich vorgesehen, was "viele Geschäftspläne durcheinanderbringt", wie die Vertreter des Rumänischen Verbands für Windenergie (RWEA) kritisieren. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Victor Ponta argumentiert immer wieder, die Entwicklung der Erneuerbaren sei "außer Kontrolle geraten", was die Strompreise in die Höhe treibe.

Doch Rumänien befindet sich in einer ganz anderen Situation als die Nachbarländer Ungarn und Bulgarien: Seine ambitionierten, mit der EU vereinbarten Ziele für 2020 hat es bereits im Vorjahr erreicht. Mehr als 25 Prozent des gesamten Energiekonsums und fast 40 Prozent des Stromkonsums werden aus erneuerbaren Quellen gedeckt, nachdem sich die Gesamtleistung aller Produktionsanlagen für erneuerbare Energien in den letzten zwei Jahren auf rund 5000 MW fast verdoppelte. Auch hat sich Rumänien stets geweigert, sich an Gazprom-Pipelines zu beteiligen. Der Ende 2014 gewählte Staatspräsident Klaus Johannis versprach mehrmals eine Fortsetzung der nachhaltigen Energiepolitik, die die energetische Abhängigkeit des Landes vom russischen Gas stark reduziert hat.

Steigende Strompreise als Treiber für Kehrtwende

Was sind die Gründe für die Kehrtwende, die sich in der ganzen Region bemerkbar macht? Steigende Strompreise sind natürlich ein Thema für weite Teile der Bevölkerung, vor allem weil, die Wirtschaftskrise längst nicht überwunden ist: Die hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter den jungen Erwachsenen und in den ländlichen Gebieten, die Auswirkungen der geplatzten Immobilienblase, die drastischen Sparmaßnahmen haben in den letzten Jahren die Kaufkraft deutlich gesenkt. Gegenwärtig steckt die Region in einer wirtschaftlichen Stagnation, die Wachstumschancen sind gering. Politiker aller Couleur, die auf der Suche nach einfachen Lösungen in den erneuerbaren Energien den idealen Sündenbock finden, setzen sich mit populistischen Gesetzesänderungen durch. Und wenn sich dabei auch lukrative Geschäfte machen lassen, umso besser.

Vor diesem Hintergrund scheint eine erfolgreiche Energiewende in Osteuropa mit einem Strukturwandel in der Wirtschaft und Politik eng verbunden zu sein. Mehr Transparenz und mehr Bürgerbeteiligung gehören zu den Voraussetzungen dieses Wandels, sind sich Experten einig,