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Der Stoff, aus dem Wirtschaftsträume sind

Von Walter Hämmerle aus Singapur

Wirtschaft

Singapurs Erfolgsgeschichte ist noch nicht zu Ende. Doch die Schattenseiten sind unübersehbar.


Singapur. Das Bemerkenswerte an Singapurs Erfolgsgeschichte sind nicht die vergangenen fünf Jahrzehnte. Die Geschichte vom bitterarmen Fischerdorf an der Südspitze Malaysias, das über nichts verfügte als die wilde Entschlossenheit, es in Sachen Wohlstand und wirtschaftlichem Erfolg ganz nach oben zu schaffen, ist hinlänglich bekannt und tausendmal erzählt. Das Bemerkenswerte an diesem multiethnischen und multireligiösen Stadtstaat an der Straße von Malakka, einer der meistbefahrenen Schifffahrtsrouten der Welt, ist die Aussicht, dass diese Erfolgsgeschichte noch weitere fünf Jahrzehnte eine Fortsetzung finden könnte.

Singapur ist der ideale Hub, von dem aus erfolgshungrige und innovative Unternehmen den dynamischsten und wachstumsstärksten Wirtschaftsraum der Welt erobern können. Wer von Singapur spricht, hat die gesamte Region im Kopf: Rund 620 Millionen potenzielle Konsumenten umfasst der Asean-Verband aus zehn südasiatischen Staaten - und China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern liegt quasi ebenfalls vor der Haustür. Um sich einen Begriff von der Dynamik dieser Weltgegend fernab von Europa zu machen, hilft es, sich die Entwicklung der konsumorientierten Mittelschicht näher anzuschauen. Derzeit noch stellen Europa und die USA rund 43 Prozent dieser Mittelschicht. Der Anteil Chinas, Indiens und der Asean-Staaten wird von gut 22 auf fast 50 Prozent dieser weltweit umworbenen Konsumentenschicht explodieren. Und sollte es hin und wieder doch krachen in dieser nicht nur zukunfts-, sondern auch spannungsreichen Region zwischen dem indischen Subkontinent, dem Inselmeer Indonesien und China, die zusammen mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung umfasst, dann hat Singapur wohl die mit Abstand besten Chancen, diese unwägbaren Wirrnisse mit dem geringsten Schaden zu überstehen.

Garant dafür ist ein stabiles und verlässliches Rechtssystem, das mit eiserner Härte darüber wacht, dass in dem 5,5-Millionen-Stadtstaat Stabilität, Ordnung und Sicherheit herrschen bei einem gleichzeitigen Maximum an wirtschaftlicher Freiheit. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Europäer, die schon länger im Land leben, von diesem System begeistert sind: "Singapur tickt europäisch", beteuern die Expats ständig. Die Stadt ist tatsächlich peinlich sauber, Englisch ist die allgemeine Umgangssprache und das Stadtbild entspricht dem Stereotyp der postmodernen Zentren. Nur typisch Asiatisches muss man mit der Lupe suchen.

Erfolg mit harter Hand

Singapur ist zweifellos enorm erfolgreich und ungeheuer sicher. Ist es aber auch eine Demokratie? Ja, sind die Singapuri überzeugt. Europäer, die nur auf Besuch hier sind, haben dagegen eher Zweifel. Unstrittig ist, dass das Land als parlamentarische Republik firmiert und Wahlen stattfinden. Was fehlt, sind dagegen eine Opposition im europäischen Sinn sowie eine freie Presse. Kritik am System und am verehrten, erst im März verstorbenen Staatsgründer und Langzeitpremier Lee Kuan Yew ist nicht nur verpönt, sondern wird konsequent verfolgt. Und die fast unbegrenzten Möglichkeiten für die Wirtschaft stehen in einem erstaunlichen Kontrast zu den geradezu drakonischen Strafen, mit denen vergleichsweise geringe Verstöße gegen die herrschenden Sitten geahndet werden.

Mit asiatischen Augen betrachtet, ist diese Rigidität im Kleinen notwendig, um die Stabilität des größeren Ganzen zu bewahren. Singapur gilt als der religiös heterogenste Staat weltweit. Während sich quer durch die gesamte Region die Vertreter verschiedener Ethnien und Religionen die Köpfe einschlagen, ist Rassenhass oder religiöser Extremismus in Singapur gänzlich unbekannt. Den allermeisten erscheinen deshalb die Einschränkungen persönlicher Freiheiten mit Blick auf die Lage in den anderen Staaten dieses Raums als das vergleichsweise geringere Übel. Heute ist Singapur, was die Immobilienpreise angeht, zwar das teuerste Pflaster der Welt (der Boden ist knapp, alljährlich wächst die Stadt um einige Quadratkilometer ins Meer hinein) und zieht dennoch Unternehmer und High-Potentials aus der ganzen Welt an. In Sachen Korruption rangiert das Land unter den Top-3, der Höchststeuersatz beträgt für Unternehmen 22 Prozent und liegt real für die meisten nahe null (Investitionen in die Produktivität von Mensch und Maschine können zur Gänze abgeschrieben werden).

Der Staat als Unternehmen

Mittlerweile bietet der Staat seinen Bürgern aber auch ein öffentliches Gesundheits- und Bildungssystem, das in der Region einzigartig ist und an das auch etliche europäische Staaten nicht heranreichen. Und um die jeweils neuesten Technologien anzulocken, investiert der Staat, der über einen der größten öffentlichen Fonds verfügt, Unsummen in Forschung, Entwicklung und Infrastruktur. Geht nicht, gibt es in Singapur nicht - zumindest nicht, wenn Geld und technische Möglichkeiten den Weg dazu bahnen. Das Bild vom Staat als Unternehmen: Hier hat es wohl seine größtmögliche Entsprechung gefunden.

Allerdings muss Singapur seinem Erfolg langsam Tribut zollen. Die liberalen Einwanderungsregeln werden zusehends restriktiver gehandhabt. Die galten aber ohnehin nur für qualifizierte Arbeitskräfte, für Flüchtlinge bleiben die Grenzen des militärisch hochgerüsteten Landes seit jeher verschlossen. In der Öffentlichkeit ist das ebenso wenig ein Thema wie die Praxis der Todesstrafe, insbesondere für Drogenhändler. Zahlen werden zwar keine veröffentlicht, ein Anwalt schätzt jedoch, dass diese jährlich rund 350 Mal vollstreckt wird. Das würde dem Paradies in Südostasien gemessen an der Einwohnerzahl zu einem weiteren Spitzenplatz verhelfen.