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Eine Frage der Geografie

Von Konstanze Walther

Wirtschaft
inet/Laurent Chamussy

Ökonom Branko Milanovic erklärt, weshalb in Europa größere Einkommensunterschiede herrschen als in den USA.


Paris. Die OECD warnte vor einer Woche, dass die Einkommen in den entwickelten Ländern noch nie so ungleich verteilt waren wie heute. Branko Milanovic, einer der wichtigsten Forscher zum Thema Ungleichheit, erklärt im Interview, warum die Schere immer weiter auseinandergeht und die in USA in puncto Einkommensverteilung besser abschneiden als die EU. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Milanovic bei der Inet-Konferenz in Paris.

"Wiener Zeitung": Wie hat sich die Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen in den vergangenen Jahren entwickelt?

Branko Milanovic: Ungleichheiten bei Einkommen haben sich in den vergangenen 25 Jahren in den industrialisierten Ländern verstärkt, wenngleich die Schere nicht überall im gleichen Maß auseinandergegangen ist. In der Welt gibt es etwa zehn Länder mit relativ geringer Ungleichheit, und interessanterweise gehören fünf oder sechs davon zum ehemaligen Habsburger-Reich: Neben Österreich sind das Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Ungarn und bis zu einem gewissen Grad Kroatien. Daneben gibt es noch die nordischen Länder Finnland, Schweden, Norwegen und Dänemark. Aber auch dort hat die Ungleichheit in der Vergangenheit zugenommen. Dann gibt es Länder wie Großbritannien oder die USA, wo die Einkommen schon immer ungleich waren und sich stetig weiter auseinanderbewegen. Die Verteilung von Vermögen weist größere Unterschiede auf als die von Einkommen. Auch wenn als Faustregel gilt, dass dort, wo die Einkommen gleich sind, auch die Vermögen gleich verteilt sind, trifft man auf Ausnahmen: Schweden, ein Land, dessen Einkommen sich gleichmäßiger verteilen, hat gemessen am BIP die meisten Milliardäre auf der Forbes-Liste der Top-Reichen.

Was kann man tun, um die Ungleichheit wieder zurückzudrängen?

Wir wissen aus der Vergangenheit, dass im Prinzip drei Maßnahmen reichen Ländern nach dem Zerfall der Habsburger-Monarchie und nach dem Zweiten Weltkrieg geholfen haben, eine gewisse Gleichheit herzustellen. Eine Maßnahme war, die Ausbildung zu egalisieren: Wenn es nicht mehr nur ein paar wenige mit einem Abschluss gibt, unterscheiden sich deren Gehälter nicht mehr so stark vom Rest der Welt. Dazu kamen neue Arten der Sozialpolitik, Transferleistungen, zum Teil unter Druck von sozialistischen Parteien, zum Teil unter kommunistischen Regimen. Gewerkschaften haben dazu beigetragen, dass die Gehälter sich nicht zu stark auseinanderbewegten. Arbeit wurde mit 40 Prozent besteuert, Vermögen mit 50 Prozent. Aber seit den 1980ern verschwinden all diese Kräfte langsam: Die Gewerkschaften verlieren Mitglieder. Bei Bildung wird inzwischen differenziert: Wenn man einen universitären Abschluss hat, verdient man auf einmal wieder deutlich mehr als mit einer bloßen Ausbildung. Und dazu kommt, dass der Steuersatz auf Kapital niedriger ist als früher.

Sehen Sie heute noch Unterschiede zwischen den Ländern des Westens und jenen, die unter sowjetischem Regime waren?

Ja. In den früheren kommunistischen Ländern in Europa, abgesehen von denen der Sowjetunion, ist die Ungleichheit noch immer geringer, also unter dem OECD-Durchschnitt. Anders die Länder des Baltikums, die sehr ungleich sind. Und dann gibt es noch Russland und die Ukraine, die die Spitze der Ungleichheit bilden.

Wie ist es dazu gekommen, dass Russland und die Ukraine derart ausscheren?

In Russland ist die Ungleichheit bei Vermögen besonders hoch, weil Russland zwei Eigenschaften aufweist, die Ungleichheit begünstigen: nämlich viele Privatisierungen und viele natürliche Ressourcen. Länder mit vielen Bodenschätzen tendieren stark zur Ungleichheit. Bei den Privatisierungen hat man sich in Russland die Bodenschätze aufgeteilt. Der Eine bekam Nickel, der Andere Öl, der Nächste Gas. Ein weiterer Grund war das System der "Schocktherapie", das zu Beginn der 1990er begonnen und soziale Transferleistungen empfindlich gekürzt hat. So wurden Menschen, die einkommensmäßig in der Mitte der Gesellschaft waren, wie Pensionisten oder junge Erwachsene, an den Rand gedrängt.

Steuern werden oft als Mittel empfohlen, um die Ungleichheit zu relativieren. Funktioniert das, gerade in einem Europa des freien Personen- und Kapitalverkehrs?

Europa ist ein besonders interessanter Fall. Die EU umfasst derzeit 28 Staaten. Wenn ich mir diese Staaten zusammen ansehe, ist das Ausmaß der Ungleichheit größer als in den USA.

Wie wird da gerechnet?

Alle Bürger werden da zusammengezählt, alle von Schweden, alle von Bulgarien, alle 400 Millionen Menschen. Und die Ungleichheit zwischen ihnen allen zusammen ist viel größer als in den USA. Der Grund dafür ist, dass viele Menschen aus Süd- oder Osteuropa nach europäischen Standards relativ arm sind. Die Dänen und die Deutschen sind sehr reich, aber dann gibt es die Bulgaren und die Rumänen.

Werden in dieser Rechnung, bei der die EU schlechter abschneidet als die USA, nur die Gehälter gezählt, oder auch Transferleistungen, wie staatliche Pensionen oder gefördertes Wohnen?

Nur die Gehälter. Aber wenn ich soziale Transferleistungen dazurechne, ist die Ungleichheit wahrscheinlich sogar noch größer, denn solche Leistungen sind in reichen Ländern wie den nordischen Staaten viel höher als in armen. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Obwohl es den freien Personenverkehr in Europa gibt, ist die Frage nach Gleichheit und Ungleichheit in Europa definitiv eine geografische. Entweder man lebt in Großbritannien und hat ein hohes Einkommen, oder man ist in Bulgarien daheim und hat ein vergleichsweise niedriges Einkommen. In den USA verhält es sich mit der Einkommensverteilung anders: Da haben Sie auch reiche Menschen in armen Staaten. Louisiana und Arkansas haben den gleichen Mix aus Arm und Reich wie New York. Wie gesagt, in der EU ist es ein geografisches Problem, in den USA ist es personenbezogen. Und das, obwohl es den freien Personenverkehr in der EU gibt. Aber die Menschen ziehen weniger umher als in den USA. Das ist ein riesiger Unterschied. Wenn man Armut und Ungleichheit in der EU als Ganzes betrachtet, würde das bedeuten, dass es große Transferleistungen von reichen zu armen Ländern bräuchte. Wie wir aber am Beispiel Griechenland sehen, gibt es dafür keine Bereitschaft. Wäre die EU ein echter Staatenbund, gäbe es Transferleistung wie seinerzeit zwischen West- und Ostdeutschland. Aber die EU ist weder ein Staatenbund noch eine Vereinigung unabhängiger Staaten, die EU ist irgendetwas dazwischen.

Hätte die globale Finanzkrise nicht mit der Ungleichheit aufräumen müssen, nachdem viel Vermögen zerstört wurde?

Zuerst haben wie bei allen Finanzkrisen vor allem die Reichen verloren, weil ihre finanziellen Werte zerstört wurden. Da ist die Ungleichheit auch gesunken. Aber dann schwappte die Krise in die Mittelschicht über, Menschen verloren ihre Arbeit. Es kam zu einem Anstieg der Armut und zu einem Anstieg in der Ungleichheit: Nach drei Jahren haben sich die Reichen erholt, aber die Mittelschicht nicht. Man muss im Auge behalten, dass dieses Interesse an Gleichheit und Ungleichheit erst entstanden ist, weil auf einmal Durchschnittsverdiener betroffen waren. Die Mittelschicht hat während der Krise verloren. Und wenn jeder jemanden kennt, der seinen Job verloren hat, und dann sieht, dass einige Topverdiener weniger oder gar nichts verloren haben, dann ist man sich der Ungleichheit auf einmal sehr deutlich bewusst. Also glaube ich, dass das Interesse an Ungleichheit an der Stagnation der realen Löhne liegt.

Hilft das viel zitierte Wundermittel Wirtschaftswachstum?

Es würde die Wahrnehmung verändern. Es würde die Ungleichheit zwar nicht notwendigerweise verkleinern. Aber es würde die Blicke auf besser gestellte Nachbarn verringern.

Branko Milanovic lehrt derzeit am Graduate Center in New York (CUNY) und am Luxemburg Income Study Center. Der geborene Serbe verfasste seine Doktorarbeit an der Universität in Belgrad zur Einkommensungleichheit in Jugoslawien, später war der Fußballfan leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank sowie Lehrender unter anderem an der Johns Hopkins Universität in den USA. Das "Foreign Policy"-Magazin erkürte ihn 2013 zu den wichtigsten 100 Personen auf Twitter. Sein aktuelles Buch "The Haves and Haves-Not" ist laut Untertitel eine "kurze und eigenwillige Geschichte der globalen Ungleichheit".