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Bloß keinen Druck

Von Veronika Eschbacher

Wirtschaft

Russland will mit 2019 den Gastransit über die Ukraine einstellen. Seither schießen Ideen für Pipelineprojekte wie Pilze aus dem Boden. Brüssel weiß aber nicht recht, in welche Richtung es gehen soll. Die Russen schaffen inzwischen Fakten.


Moskau/Brüssel/Wien. Von 1947 bis 2007 waren fast ununterbrochen Russen Schachweltmeister. Sie erwiesen sich in den Matches mit ihren Herausforderern als stets bestens vorbereitet, ausdauernd und warteten gerne mit überraschenden Zügen, aber auch Bluffs auf. Das Spiel rund um den Transport russischen Gases nach Europa gleicht heute einem Schachspiel. Seit Russland erklärte, mit 2019 den Gastransit nach Europa über die Ukraine einstellen zu wollen, gewinnt die Partie an Intensität. Durch den politischen Zwist zwischen Brüssel und Moskau wegen der Ukraine-Krise wird sie gleichzeitig härter. Und es ist ein Spiel, in dem der Kreml immer schneller auf die Schachuhr knallt - und Brüssel vor lauter Zögerlichkeit und Uneinigkeit vergessen könnte, was auf dem Spiel steht.

Dabei waren die Gas-Partien zwischen der Sowjetunion respektive Russland auf der einen Seite und den Nationalstaaten respektive Europa auf der anderen einst so simpel. Lieferverträge hatten Laufzeiten über Jahrzehnte, frei verfügbare Mengen gab es kaum. Diese Zeit ist aber längst vorbei. Mittlerweile gibt es mehr Wettbewerb, Spotmärkte, überschüssige Mengen, neue Akteure, verflüssigtes Erdgas (LNG), das in Tankern um den ganzen Erdball verschifft wird und Pipelinegas zunehmend verdrängt.

Ein Wendepunkt in den russisch-europäischen Gasbeziehungen war das Aus des Pipeline-Projekts "South Stream". Das 40-Milliarden-Euro-Projekt war einst eines der Lieblingsvorhaben des russischen Präsidenten Wladimir Putins. Es sollte sicherstellen, dass der Gastransit nach Europa über die Ukraine künftig hinfällig wird. Mit Nord Stream, einer Pipeline von Russland über die Ostsee nach Deutschland, konnte Moskau 2011 einen Teilerfolg erzielen. South Stream sollte das Vorhaben schließlich komplettieren, indem die Pipeline die südosteuropäischen Länder bis nach Österreich mit Gas versorgt.

Allein, es wollte nicht klappen mit der südlichen Route. Brüssel bestand bei South Stream auf der Einhaltung des sogenannten "Dritten Energieliberalisierungspakets" der EU. Dieses fordert - aus Wettbewerbsgründen - eine Trennung zwischen Gasproduzenten, Pipelinebesitzer und dem Nutzer der Kapazität. Putin warf schließlich im Dezember des Vorjahres das Handtuch. "Wenn Europa dieses Projekt nicht will, dann wird es nicht verwirklicht", sagte er in Ankara. "Wir werden dann unsere Energiequellen in andere Regionen der Welt leiten."

Turkish Stream auf "Hold"

Der Ankündigung zum Trotz: Russland ist freilich weiterhin am für ihn lukrativen europäischen Markt interessiert. Seit dem Aus von South Stream versucht Moskau intensiv, Alternativrouten nach Europa zu identifizieren. Als erstes, noch Ende 2014, wurde das Projekt "Turkish Stream" aus der Taufe gehoben. Die Leitungen aus Russland mit einer geplanten Kapazität von 63 Milliarden Kubikmetern jährlich sollen ebenso wie bei South Stream geplant durch das Schwarze Meer führen, aber nicht im bulgarischen Varna landen, sondern eben in der Türkei. Von dort, so ließ man damals ausrichten, möchten doch die Europäer ihr Gas künftig selbst abholen.

Doch auch hier ist viel schon wieder anders als zu Anfang angekündigt. War erst die Rede von vier Strängen, so gibt es nun kaum einen Experten, der mehr als einen Strang für wirtschaftlich erachtet. Zudem fordern die Türken einen größeren Preisnachlass, als Moskau bereit ist zu geben. Gleichzeitig gibt es aktuell keine Regierung in Ankara, mit der man das Projekt vorantreiben könnte. Und hier stellt sich angesichts der Entwicklungen im Nahen Osten auch die Frage, ob die Türkei ein verlässlicheres Transitland als die Ukraine sein würde.

Doch Moskau macht selten einen Zug alleine. Gleichzeitig hat der Kreml mit einzelnen Ländern am Balkan über die Möglichkeit, dass diese selbst eine Pipeline bauen, gesprochen. Wie die russische "Wedomosti" diese Woche berichtete, könnten im September die Außenminister Ungarns, Serbiens, Mazedoniens und Griechenlands ein Memorandum über die Verlängerung der geplanten Turkish Stream unterzeichnen. Diese soll in Europa den Namen "Tesla" bekommen, heißt es in dem Bericht, eine Kapazität von 27 Milliarden Kubikmetern haben und 2019 in Betrieb gehen. Die Investitionskosten werden auf bis zu fünf Milliarden Euro geschätzt. Die Finanzierung der Pipeline ist jedoch völlig unklar. Zudem müssen sich, wie erwähnt, erst Russland und die Türkei auf den Bau der Turkish Stream einigen.

Als drittes Eisen hat Russland den Ausbau der Nord Stream im Köcher. Mitte Juni wurde bekannt, dass Gazprom die Pipeline unter Beteiligung westlicher Energiekonzerne, darunter der OMV, um zwei Stränge mit einer Kapazität von 55 Milliarden Kubikmetern Gas im Jahr bis 2019 erweitern will. Von allen Vorhaben ist dieses Projekt wohl am einfachsten zu realisieren. Einerseits, da der durch Experten erwartete Anstieg des Gasverbrauchs in Großbritannien und mittelfristig auch in Frankreich die Wirtschaftlichkeit der Pipeline sicherstellt. Andererseits auch, weil die deutschen Netzbetreiber durchaus über die Finanzkraft verfügen, an Nord Stream anschließende Leitungen zu verstärken.

Europäische Uneinigkeit

"Strategisch ist für die Gazprom natürlich vor allem die Nord Stream eine gute Sache", sagt E-Control-Vorstand Walter Boltz zur "Wiener Zeitung". Denn über diese Pipeline werde nur russisches Gas nach Europa kommen. Damit kommt Brüssel freilich dem Ziel, unabhängiger von russischem Gas zu werden, keinen Schritt näher. "Taktisch wäre für Europa jetzt wichtig, selbst den südlichen Gaskorridor auszubauen", sagt Boltz. Denn so könnte nicht nur russisches Gas nach Europa transportiert werden, sondern auch Gas aus dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Raum bis hin zu Turkmenistan "und irgendwann vielleicht auch dem Iran, so der Atomdeal hält". Neben äußerst schwer realisierbaren Routen über den Balkan - es gibt Pläne für eine Ost-, West- oder eine Zentralroute - treibt die Slowakei das Projekt Eastring voran, das Zentraleuropa mit Südeuropa verbinden soll. Sie alle konkurrieren miteinander. Wirklich zuversichtlich, dass bald eine Entscheidung getroffen wird, scheint Boltz nicht zu sein. "Es fehlt eine einheitliche politische Willensbildung. Ich sehe auch nicht, dass sich das kurzfristig ändern wird."

In Brüssel scheint man wenig beunruhigt. Eine Sprecherin der EU-Kommission erklärte gegenüber der "Wiener Zeitung", dass die Pipelinekapazitäten aus Russland aktuell nur zu 57 Prozent genutzt würden. "Das zeigt, dass die Transportrouten aus Russland in die EU den Bedarf für bestehende und zukünftige Gaslieferungen aus Russland bereits weit überschreiten." Ein konkretes Projekt für den südlichen Gaskorridor, das Brüssel wichtig ist, wollte man nicht nennen. Im Oktober soll die Kommission eine nächste Initiative vorstellen. Beobachter bleiben aber skeptisch, dass ein Durchbruch bevorsteht.