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"Jedem sein Taschengeld"

Von Julia Mathe

Wirtschaft
Das Prekariat nährt Stress, Krankheit und Zorn, warnt Guy Standing.
© Luiza Puiu

Der britische Ökonom Guy Standing im Interview über ein bedingungsloses Grundeinkommen.


Alpbach. Der britische Ökonom Guy Standing ist davon überzeugt, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen dem europäischen Arbeitsmarkt und politischen Klima guttun würde. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm auf dem Forum Alpbach über die europäische Flüchtlingspolitik und Experimente mit Grundeinkommen in Indien.

"Wiener Zeitung":Ihr Buch "Prekariat. Die neue explosive Klasse" hat weltweit Aufmerksamkeit erregt. Was ist am Prekariat heute anders als früher?

Guy Standing: Das Prekariat wächst europaweit, während das Proletariat - die alte, industrielle Arbeiterklasse - langsam verschwindet. Immer mehr Menschen rutschen also in eine soziale Klasse ab, die sich mit Gelegenheitsjobs, Teilzeitjobs oder Ähnlichem durchschlagen muss. Sie leben in ständiger finanzieller Unsicherheit und sind für die ihnen zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze meist überqualifiziert. Außerdem sind sie von Pensionen, bezahltem Urlaub, Krankenstand oder Karenz oft ausgenommen und dadurch rein auf Geldlöhne angewiesen - wobei die durchschnittlichen Reallöhne immer weiter sinken. Ein Unfall oder eine falsche Entscheidung reicht aus, um sich zu verschulden und zu verarmen.

Wie äußert sich diese Entwicklung in Europa?

Momentan sind Millionen von Europäern im Prekariat, vor allem junge Leute. Sie leiden unter ständiger Unsicherheit und psychischem Druck. Doch das Schlimmste ist, dass sie ihre Würde verlieren. Wenn sie um finanzielle Beihilfen ansuchen, werden sie zu einer Art Bettler. Sie haben das Gefühl, ihren Werdegang nicht selbst bestimmen zu können, sondern auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein.

Sie sagten einst, "Regierungen sollten Aufwand statt nur Arbeit messen". Können Sie das erklären?

Unsere Arbeitsstatistiken sollten uns einen Eindruck davon vermitteln, was in unserer Gesellschaft passiert. Aber momentan dokumentieren diese Statistiken nicht alle Formen von Arbeit, die zusätzlich erledigt werden müssen - insbesondere vom Prekariat. Wir haben keine Ahnung, wie viel Zeit in Umschulungen investiert wird, in Vereine oder in die Pflege von Verwandten. Wir wissen auch nicht, wie viel Zeit für Bewerbungen aufgewendet wird. Wenn Sie Teil des Prekariats sind, kann es sein, dass Sie 50 Tage im Jahr nur für die Arbeitssuche aufwenden. Weil die Jobs, die für Sie infrage kommen, kurzfristig und schwer zu haben sind. Manche Leute haben mir erzählt, dass sie sich für tausend Jobs bewerben müssen, bevor sie einen bekommen. Können Sie sich vorstellen, wie viel Zeit da draufgeht?

Die Europäische Union erlebt gerade eine nie dagewesene Flüchtlingswelle, viele von ihnen bestens qualifiziert. Was bedeutet dies für das Prekariat in Europa?

Tragisch ist, dass Migranten generell einen großen Teil des Prekariats ausmachen: In Schweden, Österreich, Großbritannien - überall. Wenn der Staat aber jeden Menschen gleich behandelt - vorausgesetzt, er ist legal eingewandert -, dann können wir das Potenzial der Migranten am Arbeitsmarkt nutzen und ihnen so einen besseren Platz in der Gesellschaft bieten. Man darf aber nicht vergessen, dass viele Leute des Prekariats keine Migranten sind und auch keinen adäquaten Arbeitsplatz finden. Es ist ein Merkmal unseres Arbeitsmarkts und unserer Zeit, dass Unmengen an Leuten ihre Kompetenzen nicht nutzen können.

Was könnte die Europäische Union noch tun, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern?

Seien wir ehrlich: Wir können auf lange Sicht keine unbegrenzte Zuwanderung ermöglichen. Stattdessen sollten wir aufhören, dem Steigen der Flüchtlingszahlen und den Kriegen untätig zuzusehen. In Europa sind so viele reiche Länder, die ihre wirtschaftliche Kraft nützen könnten, um in den Gebieten, die von Abwanderung betroffen sind, bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Dann würden die Leute in ihren Ländern bleiben wollen.

Sie sind Teil des Basic Income Earth Network, das sich für bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt. Glauben Sie, dass man hiermit den Lebensstandard in armen Gebieten anheben könnte?

Das Grundeinkommen ist zwar wichtig, aber nur Teil der Lösung. In meinem Buch "The Precariat Charter" schlage ich 29 Maßnahmen vor, um dem Prekariat zum Aufstieg zu verhelfen. In diesem Prozess ist ein bedingungsloses Grundeinkommen die einzige Möglichkeit, Menschen den nötigen Freiraum zu geben. Psychologische Tests belegen, dass Menschen, die eine Grundsicherheit haben, rationaler handeln, toleranter werden und mehr arbeiten. Sie können außerdem höhere unternehmerische Risiken eingehen und haben mehr Zeit, sich für gute Zwecke zu engagieren. Sicherheit macht uns zu besseren Menschen.

Wissen Sie wirklich, wie sich ein Grundeinkommen auf eine ganze Gesellschaft auswirken würde?

Wir haben in Indien Pilotprojekte durchgeführt, in denen alle Dorfbewohner ihr monatliches Grundeinkommen bekommen haben - und zwar unabhängig von ihrem Geschlecht, Gehalt oder Beschäftigungsstatus. Kaum hatten sie ihre Grundsicherheit, haben sie begonnen, Tiere zu züchten, ihre Kinder in die Schule zu schicken und gemeinsam Sanitäranlagen zu finanzieren. Das Experiment lief 18 Monate und hat die Zukunftsaussichten der Dorfbewohner verändert. Viele haben ihre Schulden zurückgezahlt und sich so ihre Freiheit zurückgekauft. Außerdem haben sich die Beziehungen untereinander verbessert, ob zwischen Mann und Frau oder Jung und Alt.

Vielleicht dauert es länger als 18 Monate, bis sich die Menschen an dieses neue Wirtschaftskonzept gewöhnen, nachlässig werden und sich zurücklehnen.

Natürlich kann man die langfristigen Auswirkungen mit einem kurzfristigen Pilotprojekt nicht vorhersagen. Aber schon vor unserem 18-monatigen Experiment herrschte die Überzeugung vor, die Leute würden ihr Grundeinkommen nur für Alkohol und Tabak aufwenden. Die indischen Dorfbewohner haben uns das Gegenteil bewiesen und ich glaube, dass 99 Prozent der Menschen grundsätzlich danach streben, mehr zu verdienen, weil sie ihr Leben kontinuierlich verbessern wollen. Wir würden uns doch nicht einfach zurücklehnen und mit dem Grundeinkommen zufriedengeben.

Indien und die Europäische Union sind bezüglich Lebensstandard, Sozialleistungen und Ungleichheit zwei verschiedene Welten. Braucht auch Europa ein Grundeinkommen?

Momentan leben Millionen von Leuten in ganz Europa in wirtschaftlicher Unsicherheit. Das nährt Stress, Krankheit, Zorn und Anomie, was einem Gesellschaftsverband auf keinen Fall guttut. Wütende, verzweifelte Menschen glauben leider oft, in rechtspopulistischen Parteien Zuflucht zu finden. Wenn wir also keine Basissicherheit für jeden von uns schaffen, erwarten uns unliebsame politische Entwicklungen.

Was ist ein "bescheidenes Grundeinkommen" für Sie? Könnte man davon leben, ohne zu arbeiten?

Ich schlage vor, sich langsam auf ein echtes Grundeinkommen zuzubewegen. Zu Beginn könnte man einen bescheidenen Betrag von 30 Prozent des Medianeinkommens auszahlen. Das ist leistbar und kann auch schrittweise passieren. Zusätzlich dazu würden Behinderte, Mütter und Senioren weitere Beihilfen erhalten. Mit der Zeit sollte man den Betrag auf 60 Prozent des Medians erhöhen.

Hans Jörg Schelling, österreichischer Finanzminister, hat sich unlängst gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen in Österreich ausgesprochen. Seine Begründung: "Die meisten Österreicher sind hochzufrieden mit ihren Arbeitsplätzen" und "Leistung muss belohnt werden". Was würden Sie entgegnen?

Leute aus der Mittelklasse sind oft moralistisch. Ich kenne den Minister nicht, vermute aber, dass er aus einer relativ wohlhabenden Familie kommt. Wenn er Kinder hat, gibt er ihnen wahrscheinlich Taschengeld. Und ich finde, dass jeder Taschengeld bekommen sollte. Ich kenne so viele Politiker, die aus einem privilegierten Umfeld stammen, aber anderen keine Basissicherheit gönnen. Der britische Sozialminister hat über 100 Millionen Euro an Zuschüssen von der Gemeinsamen Agrarpolitik erhalten und predigt, dass ein Grundeinkommen die Leute faul machen würde. Wenn Geld also faul macht, sollten wir ihm seine Zuschüsse wegnehmen, oder? Diese moralistische Haltung ist voreingenommen. Wir brauchen mehr Einfühlungsvermögen.

Zur Person
Guy Standing (67 Jahre) ist Ökonom und Entwicklungsforscher an der University of London, außerdem Gründungsmitglied und Ko-Präsident des Basic Income Earth Network, deren Mitglieder sich weltweit für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzen.