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"Dann ist alles verloren"

Von Saskia Blatakes und Thomas Seifert

Wirtschaft

Der britische Politologe Colin Crouch über den Fetisch des Wirtschaftsdenkens und TTIP als postdemokratische Gefahr.


"Wiener Zeitung": Ihr 2004 erschienenes Buch "Postdemokratie" war prophetisch. Vieles hat sich bewahrheitet, einiges ist wohl schlimmer gekommen, als Sie es vorausgesehen haben. Hätten Sie damals jemanden wie Donald Trump für möglich gehalten?Colin Crouch: Als Prophet bin ich glücklich, als Bürger bin ich traurig. In meinem Buch habe ich nur Tendenzen beschrieben, die sich seitdem alle verschlechtert haben. Die größte postdemokratische Entwicklung wäre heute das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP). Die Verhandlungen verlaufen völlig undemokratisch. Politiker und Funktionäre von Großkonzernen verhandeln hinter verschlossenen Türen. Wenn TTIP in seiner ursprünglichen Form umgesetzt wird, dann ist die Postdemokratie hier. Dann ist alles verloren. Unternehmen können vor Schattengerichten klagen, wenn eine Regierung Geschäftsinteressen verletzt. Das macht Politik unmöglich.

Die Ungleichheit ist weltweit so hoch wie zuletzt im 19. Jahrhundert, das wissen wir seit Thomas Piketty. Passen Ungleichheit und Demokratie überhaupt zusammen?

In "Postdemokratie" habe ich Ungleichheit zu wenig berücksichtigt. Der Punkt ist, dass sich wirtschaftliche Ungleichheit in politische Ungleichheit übersetzen lässt. Für die Demokratie ist das ein großes Problem.



Wieso sprechen Ökonomen - im Gegensatz zu den Sozialwissenschaften - nicht über Macht?

Die Ökonomen haben recht, wenn sie sagen, dass die Kontrolle des Marktes auch Nachteile hat. Wenn man zum Beispiel die Mieten reguliert, wird es sehr wahrscheinlich einen Mangel geben. Man kann nicht gegen den Markt arbeiten. Das Gesetz von Angebot und Nachfrage müssen wir akzeptieren. Aber man darf nicht alle anderen Wissenschaften ausklammern. Das beste Beispiel ist Griechenland. Da ging es nur noch um Fragen der Wirtschaftslehre. Das Ziel der Troika war es einzig und allein, die Forderungen der privaten Banken zu bedienen, bei den Verhandlungen waren informell Vertreter der Großbanken zugegen. Interesse an längerfristigen Entwicklungen der griechischen Ökonomie hatte keiner. Die Marktlogik hat dazu geführt, dass Griechenland ärmer und ärmer wird.

Alles ist heute ökonomisiert, selbst die Liebe zwischen zwei Menschen wird von manchen Ökonomen als bloßer als Deal gesehen. Wie konnte es dazu kommen?

Teilweise, weil diese Sichtweise nützlich ist. Das Wirtschaftsdenken hat viele Vorteile, das streite ich nicht ab. Aber wir sollten nicht zulassen, dass es uns dominiert. Es hat sich durchgesetzt, da die größten Mächte unserer Zeit die Großkonzerne sind, allen voran die Banken, die natürlich nach diesen Prinzipien funktionieren.

Auch der Zwang zur ständigen Optimierung entspringt dem Primat der Wirtschaft. Fühlen sich die Menschen davon nicht überfordert?

Effizienz ist gut, aber nicht alles. Für die Wirtschaft gibt es nur ein Ziel: Gewinnmaximierung. In allen anderen Lebensbereichen haben wir viele Ziele. Dazu gehören auch Ruhe und Entspannung. Wir brauchen ein Gleichgewicht im Leben. Optimieren ist gut, nur maximieren zu wollen, ist sehr gefährlich.

Manche Ökonomen gehen davon aus, dass jeder immer nur auf seinen Vorteil aus ist. Wo bleibt da die Kooperation?

Im Privatleben ist Misstrauen eher nicht angebracht. Wenn wir jemandem vertrauen, brauchen wir nicht zu kalkulieren. In allen anderen Lebensbereichen sind wir zunächst einmal misstrauisch. Aber - und das ist der Kern meines Buches - um den Markt zu nutzen, um das Problem des Misstrauens zu lösen, brauchen wir Wissen und Kenntnisse. Das große Problem ist, dass wir über die meisten Prozesse der komplexen modernen Wirtschaft absolut unzureichende Information haben. Es geht nicht darum, seinen Vorteil zu kalkulieren, sondern darum, zu regulieren, denn der Markt ist längst von extremen Konzentrationen ökonomischer Macht verzerrt. Alle jene, die keiner Elite angehören, laufen immer mehr Gefahr, übers Ohr gehauen zu werden. Ein gutes Beispiel ist der VW-Skandal. Wir müssen den Angaben des Unternehmens glauben. Aber vertrauen können wir nur, wenn es eine staatliche Regulierungsbehörde gibt. Dem Markt selbst können wir nicht vertrauen. Wir sehen das an allen möglichen Skandalen - der Verkauf fauler Finanzprodukte durch Banken und Versicherungen, die Manipulation von Leistungskennziffern in Ämtern und öffentlichen Einrichtungen und so weiter. Das sind aber keine Einzelfälle, sondern es besteht ein systematischer Zusammenhang. Schuld ist meistens unser Übermaß an Respekt vor einem absolut verzerrten Verständnis von Marktwirtschaft.

Aus Bürgern werden Nutzer, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch. Was meinen Sie damit?

Im öffentlichen Dienst heißt es, dass wir die Rechte von Bürgern haben. Aber sehr oft trifft das nicht zu, wir verkommen zu reinen Kunden. In Großbritannien haben wir privatisierte Schulen, die nicht von den Eltern, sondern vom Staat bezahlt werden. Die Eltern und die Kinder sind nicht einmal Teil des Marktes, sie sind nicht einmal mehr Kunden, sondern nur noch Nutzer. Die Frage, ist, wie sie wieder Bürgerrechte bekommen.

Auch in der Flüchtlingsdebatte dominiert ökonomisches Denken: Was kosten sie, was bringen sie der Volkswirtschaft?

Das zeigt sehr gut die Grenzen des Marktes, denn der kann hier gar nichts ausrichten. Die Menschen kommen nicht wegen des Arbeitsmarkts, sondern wegen Krieg und Hunger. Hier kann uns Wirtschaftsdenken absolut nicht weiterhelfen.

Was haben wir der Dominanz der Marktlogik entgegenzusetzen? Selbst ein Multi-Milliardär und Investor wie George Soros hält Selbstregulierung für absolut unrealistisch.

Für viele Transaktionen funktioniert der Markt. Wenn es Wettbewerb gibt und genügend Informationen, dann gibt es kein Problem. Zum Beispiel, wenn wir Brot kaufen: Wir kennen das Angebot und wählen aus. Aber die Marktlogik ist unzureichend, wenn die Produkte komplizierter sind oder wenn es Werte zu berücksichtigen gilt, die nicht im Preis enthalten sind. Das Klima ist zum Beispiel kein Marktakteur und kann sich nicht selbst schützen.

Katastrophen wie der Atomunfall von Fukushima zeigen, was passiert, wenn Warnungen von Wissenschaftern ignoriert und von ökonomischen Prinzipien überstimmt werden. Sie fordern deshalb, Fachwissen wieder mehr zu schätzen. Aber wäre eine Expertenrepublik nicht auch elitär und von den Bürgern entfremdet?

Die Helden meines Buches sind die Experten, das stimmt. Aber auch ihnen können wir nicht restlos vertrauen. Denn auch die Wissenschaften brauchen Regulierung. Das kostet freilich Zeit, Geld und Anstrengung. Der Markt oder das Vertrauen in die Fachleute können es alleine nicht regeln. Wir müssen eben alle akzeptieren, dass es ohne Kontrolle nicht geht.

Sie fordern mehr Transparenz. Der in Wien forschende Politikwissenschafter Ivan Krastev zeigt in seinem Buch "In Mistrust we trust" die Tücken der Transparenz. Seiner Meinung nach kann sie das Misstrauen der Bürger sogar vergrößern.

Ich glaube schon, dass wir Transparenz brauchen und heute haben wir wahrscheinlich mehr als jemals zuvor. Aber die Forderung nach Transparenz kann auch zu weit führen. Zum Beispiel, wenn Politiker keine privaten Gespräche mehr führen können. Es ist unmöglich, dass alles in der Öffentlichkeit geschieht. Es war Otto von Bismarck, der gesagt hat: Je weniger die Leute wissen, wie Würste und Gesetze gemacht werden, desto besser schlafen sie. Politik ist eben hin und wieder ein schmutziges Geschäft.

Aber wie können wir mit dem Misstrauen zwischen Politik und Bürgern umgehen? Auch die Politiker misstrauen den Bürgern, denken wir nur an den NSA-Skandal und die Vorratsdatenspeicherung. Die Medien wiederum werden von Teilen der Bevölkerung als Lügenpresse verunglimpft.

Vielleicht ist der Mensch heute schlechter als früher, aber das glaube ich nicht. Wir Bürger sind sicher nicht mehr so respektvoll der Politik gegenüber wie in der Vergangenheit. Das ist gut. Wir sind nicht mehr so unwissend und leicht zu manipulieren. Aber das isoliert uns auch.

Zur Person

Colin Crouch

Der britische Politologe ist mit seinen Thesen zur Postdemokratie bekannt geworden. Im Bruno Kreisky-Forum stellte Crouch unlängst sein neues Buch "Die bezifferte Welt" (Suhrkamp, 22,60 Euro, 250 Seiten) vor, das davon handelt, wie der Neoliberalismus zum Feind des Wissens wurde. Crouch führt darin Beispiele an, wie der Effizienz-Gedanke an die Stelle der Problemlösung getreten sei. Im Wiener Passagen Verlag sind die Crouch-Bücher "Markt und Moral" und "Jenseits des Neoliberalismus" erschienen.