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Das weniger süße Leben

Von Veronika Eschbacher

Wirtschaft

In Russland stellt sich die Bevölkerung darauf ein, den Gürtel 2016 enger zu schnallen.


Moskau/Wien. Wer sich in Russland heute die Laune verderben will, der schlägt eine Wirtschaftszeitung auf. Dass Schmuck mit Brillanten sich heuer um 40 Prozent schlechter verkauft als im Vorjahr, mag dem Durchschnittsrussen noch mehr oder weniger egal sein. Ebenso, dass in der südsibirischen Region Altaj 100 unabhängige Tankstellen zusperren. Weniger Gleichgültigkeit wird die Nachricht hervorrufen, dass die russischen Banken die schwierigste Zeit seit einer Dekade durchleben und heuer laut Standard & Poors mit einem Verlust von 50 bis 70 Milliarden Rubel rechnen - im Gegensatz zu einem Gewinn von 220 Milliarden Rubel im Vorjahr. Unbehagen stellt sich bei den meisten darüber ein, dass die Landeswährung Rubel gegenüber dem Dollar am Dienstag ein neues Rekordtief erreicht hat und mit 70,83 Rubel für einen Dollar so niedrig liegt wie seit 1998 nicht mehr. Und dann gibt es noch eine Reihe an Meldungen, welche Preissteigerungen 2016 in Russland geplant sind - sei es für bestimmte Alkoholsorten, öffentlichen Verkehr oder die Gebühren für Gas, Wasser, Strom und Kanal. Dabei beträgt die Inflation ohnehin bereits rund 16 Prozent in diesem Jahr.

Die instabile wirtschaftliche Situation samt volatiler Ölpreise ist auch der Grund dafür, dass für 2016 erstmals seit mehreren Jahren kein Drei-Jahres-Budget verabschiedet wurde. Der russische Präsident Wladimir Putin unterzeichnete am Dienstag lediglich einen Finanzplan für das Jahr 2016. Dieser geht von einem Budgetdefizit von drei Prozent aus und bleibt damit innerhalb der in der Eurozone geltenden Grenzen. Jedoch funktioniert dies nur durch Rückgriffe auf die in Zeiten höherer Ölpreise angesparten Reserven. So soll der Reservefonds von 3,4 Trillionen Rubel bis Jahresende 2016 auf eine Trillion schmelzen, der Wohlstandsfonds von 4,9 auf 4,66 Trillionen Rubel.

Planung mit 50-Dollar-Ölpreis

Die russische Regierung hatte in diesem Jahr noch auf einen steigenden Ölpreis gesetzt. Für 2016 gibt sie diese Hoffnung offenbar auf und budgetiert vorsichtig, indem sie dem von den Öleinnahmen stark abhängenden Haushalt einen Preis von 50 Dollar pro Barrel Öl zugrunde legt. Dennoch haben Experten Zweifel, dass Moskau die geplanten Staatseinnahmen insgesamt erzielen kann.

Heuer wird das russische BIP laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds um 3,8 Prozent schrumpfen. Lange hatte die russische Führung an einer Wachstumsprognose für 2016 festgehalten, doch mittlerweile geht die russische Zentralbank von einem negativen BIP von 0,5 bis 1 Prozent im nächsten Jahr aus. Die Inflation sieht sie bei 6,5 Prozent.

German Gref, Chef der Sberbank und ehemaliger Wirtschaftsminister Russlands, erklärte am Dienstag, er erwarte keinen wirtschaftlichen Kollaps im nächsten Jahr; die Situation werde aber auch nicht besser. Bei einem Ölpreis unter 50 Dollar werde das Leben "weniger süß" sein.

Weniger süß wird es wohl vor allem für sozial Schwächere werden. Im Budget für das nächste Jahr ist erneut mehr Geld für das Militär und weniger für Sozialleistungen vorgesehen. Pensionszahlungen sind mit einem guten Viertel der Ausgaben weiterhin der größte Brocken, jedoch wachsen sie seit 2015 bereits weniger schnell als die Inflation. Mit einer geplanten Pensionserhöhung von vier Prozent wird dieser Kurs auch 2016 beibehalten. Kürzungen sind auch beim Wohnungsbau, Bildung und Gesundheitsvorsorge vorgesehen. Dabei befinden sich die Realeinkommen heuer schon im Sinkflug: Sie fielen bis November um fast elf Prozent.

Mehr Militärausgaben

Der Militärhaushalt wird sich auf 45 Milliarden Euro belaufen. Der russische Rüstungssektor ist aktuell jener, der kräftig wächst. Laut dem Friedensforschungsinstitut Sipri stiegen die russischen Waffenverkäufe binnen Jahresfrist um 48,4 Prozent an und machten 10,2 Prozent des weltweiten Waffenhandels aus. Positive Tendenzen gibt es laut dem russischen Ökonomen Wladislaw Inozemtsew daneben noch in der Landwirtschaft, die von den Gegensanktionen profitiert, der Bauwirtschaft und manchen Ölförderern, die durch den Rubelverfall - die Einnahmen werden in Dollar erzielt - ihre Ausgaben verringern konnten.

"In allen anderen Sektoren liegt der Rückgang bei rund zehn Prozent", sagt Inozemtsew. Besonders schnell würden die Gewinne im Dienstleistungssektor dahinschmelzen - im Restaurantbusiness oder im Tourismus, der wegen des Verbots von Reisen nach Ägypten (wegen der Ende Oktober über dem Sinai abgestürzten russischen Passagiermaschine) und der Türkei (infolge der Spannungen nach dem Abschuss eines russischen Fliegers durch türkische Militärs an der türkisch-syrischen Grenze) um ein Drittel einbrach; aber auch bei Konsumgütern mit langer Haltbarkeit, etwa Kühlschränken, Fernsehern oder Autos. Der Markt für Letztere brach im November um 43 Prozent ein.

Inozemtsew rechnet vor, dass die russische Wirtschaft von 2000 bis 2008 im Schnitt jährlich um 6,9 Prozent wuchs, von 2008 bis 2015 jedoch nur um 0,3 Prozent. Das liegt der Meinung des Ökonomen zufolge nicht so sehr an den Ölpreisen oder den westlichen Sanktionen - eine Verlängerung soll laut EU-Ratspräsident Donald Tusk am Freitag entschieden werden-, sondern vielmehr am inneren Aufbau der russischen Wirtschaft, ihrer Ineffizienz und am wachsenden Druck vonseiten der Verwaltung. Anlässe, im nächsten Jahr zu Wachstum zurückzukehren, gebe es also nicht. So wird sich wohl auf weitere Sicht die Laune verderben, wer eine russische Wirtschaftszeitung aufschlägt.