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An der ökonomischen Wasserscheide

Von Reinhard Göweil

Wirtschaft

Analyse: Der Absturz der Aktienbörsen zeigt immense Risiken der Weltwirtschaft - Ungleichgewichte außer Kontrolle.


Wien/Frankfurt. "Verkaufen Sie alles, außer hochwertige Anleihen", rieten die Analysten der Royal Bank of Scotland Mitte Jänner Wertpapierbesitzern. Und diese scheinen den Tipp zu beherzigen. Die Aktienbörsen knicken ein, am Montag gab es erneut einen lauten Rumpler nach unten, der deutsche Börsenindex DAX sackte sogar kurzzeitig unter 9000 Punkte. Und das Wiener Börse-Barometer ATX, das Anfang 2011 noch bei 3000 Punkten stand, ist bald an der 2000er-Marke angelangt. Auch den Börsen in London, Paris und New York tut das Jahr 2016 bisher nicht gut.

Warner gab es schon davor. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller warnte im Herbst 2015 vor einem Crash. Der weltbekannte Investor George Soros verglich die jetzige Situation mit jener zu Beginn der Finanzkrise. Und tatsächlich scheint die Weltwirtschaft insgesamt die mühsam wiedererrungene Balance wieder zu verlieren. Denn die fallenden Aktienkurse treffen auf besonders niedrige Ölpreise und auf Notenbanken, die bei kaum sichtbaren Zinsen Geld in den Markt pumpen.

Gefährliche Gemengelage

Und die sogenannten Schwellenländer, die nach 2008 mithalfen, die Weltwirtschaft wachsen zu lassen, sind ihrerseits in die Krise geraten. Russlands Wirtschaft schrumpfte 2015 um fast 4 Prozent und wird auch heuer nicht aus der Rezession kommen. Ob China den geplanten Umbau von Export- in Binnen-Orientierung schafft, ist mehr als unsicher. Chinas Schwäche hat - mit Ausnahme von Gold - alle Rohstoffpreise nach unten gerissen. Und Brasilien steckt sowohl in einer wirtschaftlichen als auch in einer politischen Krise.

In Europa versuchen die Staaten, die öffentlichen Schulden zu reduzieren, was zu hartnäckiger Arbeitslosigkeit führt. Gleichzeitig offenbart das Flüchtlingsthema das politische Unvermögen der EU. Die USA stecken in einem Präsidentschaftswahlkampf mit - für die USA bisher - unbekannten Extrempositionen. Und die Fed hat die Dollar-Geldmenge beträchtlich erhöht. Viel davon ist an der Wall Street angekommen. Der Dow Jones Index in New York sank am Montag unter die Marke von 16.000 Punkten - Shiller hält überhaupt erst einen Kurs von 10.000 bis 11.000 für gesund. Die Zutaten für eine handfeste Weltwirtschaftskrise sind also allesamt vorhanden, es hängt jetzt alles an deren Zubereitung.

Ob die ökonomischen Köche daraus ein schmackhafteres Gericht servieren können, ist freilich mehr als unsicher. Ein Beispiel: Heuer wird in der EU ein Wachstum von etwa 1,7 Prozent erwartet, was angesichts der globalen Probleme gar nicht so schlecht ist. Ob es tatsächlich erreicht wird, steht freilich in den Sternen.

Denn die europäischen Länder, in denen die Unternehmen auf einigermaßen festem Grund stehen, sind stark vom Export in Drittstaaten abhängig - etwa nach Asien und Südamerika. Angesichts deren Entwicklung wäre es robuster, wenn die europäischen Abnehmer zulegen könnten. Diese befinden sich allerdings im Süden Europas und müssen sparen. In Frankreich, Italien und Spanien leben insgesamt 174 Millionen Menschen - mit sinkenden Reallöhnen, steigenden Bevölkerungszahlen und zunehmender Arbeitslosigkeit. Die jüngsten deutschen Industriezahlen zeigen bereits, dass sich das "Musterland Europas" davon nicht lösen kann, auch dessen Wachtumsprognose geht nach unten.

Blutbad bei Bankaktien

Wenn nun die Aktienkurse einknicken, wie es die Mahner befürchten, droht ein Dominoeffekt. Dann müssen Vermögenswerte in Bilanzen "wertberichtigt" werden, wie es so schön heißt. Konzerne drosseln ihre Investitionen und bauen Mitarbeiter ab. Die Folge sind Firmenpleiten, die sich wiederum in Form von Kreditausfällen bei Banken bemerkbar machen. Die Prämien für Kreditausfallversicherungen sind für Banken auf dem höchsten Stand seit zweieinhalb Jahren.

Auch Europas Bankaktien sind am Montag deutlich eingeknickt. Die Deutsche Bank ist auf einem Sieben-Jahres-Tief, die Unicredit (Bank Austria) in Mailand musste zeitweise vom Handel ausgesetzt werden. Griechische Bankaktien sind im freien Fall. An der Wiener Börse erwischte es die Erste Group mit fast 9 Prozent, Raiffeisen verlor etwa 6 Prozent. Für Europas Banken, die aufgrund der regulatorischen Vorschriften bis 2019 das Eigenkapital erhöhen müssen, sind derart schwache Kurs Gift. Nun haben sich die Aktienmärkte seit der Finanzkrise verengt und Kleinanleger das Weite gesucht. An den Börsen haben Großinvestoren das Sagen: Versicherungen, Pensionskassen, riesige Hedge Fonds, Banken.

Allzu große Häme gegenüber den "Großkopferten", die nun Milliarden verlieren, ist aber nicht angebracht. Der Absturz des Ölpreises etwa hat weltweit Investitionen der Ölindustrie in Höhe von 400 Milliarden Euro auf Eis gelegt. Das trifft natürlich die Zulieferindustrie und deren Beschäftigten, von denen tausende arbeitslos werden. Das spielt sich dann in allen Branchen ab, die vor derartigen Problemen stehen.

Das aktuelle Gegenteil einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft führt auch zu Verunsicherung. Konsumenten geben das vorhandene Geld nicht aus, sondern beginnen "für schlechtere Zeiten" zu sparen. Das Phänomen ist schon seit der Finanzkrise 2008 zu beobachten. Während die sogenannte Mengen-Konjunktur in den Industrieländern gar nicht so schlecht läuft, verharrt die Inflation nahe der Nulllinie. Die Schnäppchenjäger sind mehrheitsfähig geworden. Es wird gekauft, aber billig oder mit Rabatt.

Globalisierung aus dem Ruder

Mit Produktivitätssteigerungen lässt sich das in den Industrieländern nicht mehr ausgleichen, ohne Löhne deutlich zu kürzen. Das wiederum würde den Privatkonsum abwürgen und das Wirtschaftswachstum zerstören. Also hat sich die Industrie auf globale Arbeitsteilung verlegt. In Bangladesch gefertigte Textilien können auch in Europa billig verkauft werden. Nur sind die sozialen und Arbeitsbedingungen in dem Land fernab von westlichen Standards.

Ähnlich verhält es sich in der Landwirtschaft. Billige Baumwolle aus Kasachstan war sehr beliebt. Die Pflanze, als Monokultur eingesetzt, benötigt aber so viel Wasser, dass der Aralsee fast ausgetrocknet ist. Die daraus resultierenden Umweltschäden waren nirgends eingepreist.

Nun ist der Zusammenhang zwischen Intensivlandwirtschaft und einem Börsecrash nicht auf den ersten Blick ersichtlich, und doch gibt es ihn. Globale Waren- und Finanzströme folgen dem Profit. Was keinen Preis hat, hat auch keinen Wert, um es einmal salopp zu formulieren. Die Zentralbanken der USA, Europas und Japans haben, um dieses System nach 2008 zu retten, mit immenser Geldschöpfung Preise (an den Börsen) gehalten und erhöht.

Kurs und Dividende zu hoch

Die Entwicklung der Realwirtschaft hat damit aber nicht Schritt gehalten. Die Unternehmen sind viel weniger wert, als die Börsen suggerieren. Denn deren Aktienkurse sind - von Investment-Produkten handwerklich verfeinert - künstlich überhöht. Der US-Ökonom Shiller hat ein Kurs-Gewinn-Verhältnis errechnet, das um ein Drittel höher ist als der langjährige Durchschnitt. Um das zu beheben, müsste der Gewinn der börsenotierten Untenehmen entweder deutlich steigen oder der Kurs sinken. Ersteres ist - ohne Massenarmut - nicht zu machen. Bleiben also sinkende Kurse. Und die passieren gerade.

Doch damit ist es wohl nicht getan, denn die Globalisierung hat - im Verein mit einer heillos überforderten nationalen Politik - zu Preisverzerrungen geführt, die sowohl umwelt- als auch sozialschädlich geworden ist.

Nun versuchen Regierungen mit Subventionen gegenzusteuern, etwa im Energiebereich. Das führt zu erneuten Ungleichgewichten, die noch kein Wirtschaftsnobelpreisträger spieltheoretisch errechnet hat. Die Summe all dieser Ungleichgewichte bekommen alle zu spüren, nicht nur Anleger. Denn den fallenden Kursen folgen fallende Wirtschaftsdaten - und damit höhere Arbeitslosigkeit. Für eine Politik, die gleichzeitig sparen will, ähnelt das der Quadratur des Kreises.