"Wiener Zeitung": Sind Sie religiös?
Tomá Sedláček: Nein. Was aber nicht heißt, dass ich an nichts glaube.
Sie zitieren nämlich oft aus der Bibel. Unter Ökonomen ist das unüblich.
Ich denke, dass die ursprüngliche Botschaft der Bibel verloren gegangen ist in einem Überbau, den man bestenfalls als lächerlich bezeichnen kann.
In Ihren Büchern beziehen Sie sich etwa auf das Zitat, dass auf sieben gute Jahre stets sieben schlechte folgen. In welchem Stadium sind wir gerade?
Das wissen wir nicht. Die Quintessenz dieser etwa 4000 Jahre alten Geschichte ist eine andere: Dass unsere Volkswirtschaften nicht depressiv, sondern manisch-depressiv sind. Und die Manien sind mindestens genauso problematisch wie die Depressionen. Weil wir nur während der "guten", manischen Zeiten für die schlechten vorsorgen können. Wir tun das aber nicht. Es kommt also nicht darauf an, welche Phase wir gerade durchlaufen. Sondern darauf, dass der Westen fähig ist, sich selbst zu vernichten, wenn die nächste Krise kommt. Wir haben nicht viel von der letzten Krise gelernt.
Welche Lehre hätten wir ziehen sollen?
Hätte der Westen 2007 eine durchschnittliche Schuldenquote von null Prozent gehabt, wäre die Krise gar nicht entstanden. Dann wäre die Schuldenquote von null auf 20 Prozent gestiegen. Von einer Katastrophe wäre das weit entfernt gewesen. Nach der Krise hätte der Westen darauf reagieren und Schulden reduzieren sollen. Bisher ist aber Gegenteiliges passiert.
Was läuft schief?
Staaten brauchen Polster, um die Wirtschaft aufzufangen, wenn sie fällt. Aber unsere Polster sind fast aufgebraucht: Wir haben weder fiskale noch monetäre Medikamente übrig. Die Staatsdefizite haben wir auch ausgereizt. Die Ökonomie ist mit Medizin vollgepumpt und wächst trotzdem nicht so recht. Wir akzeptieren nicht, dass die Wirtschaft nicht unbedingt wachsen muss.
Der Mainstream der Ökonomen würde Ihnen hier widersprechen.
Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Wachstum sehr schwierig und schädlich ist. Für die Umwelt etwa, oder die Psyche. In Japan, das viel wohlhabender ist als die meisten europäischen Länder, sterben Menschen an den Folgen von Arbeitsüberlastung. Die Leute sind so darauf fixiert, immer reicher zu werden, dass sie an ihrem Bürotisch sterben. Ironischerweise passiert das in armen Ländern nicht.
Kritiker entgegnen, dass Wachstum Arbeitsplätze schafft. Die europäischen Arbeitslosenraten sind im Schnitt noch immer höher als vor der Krise.
Und gutes Wetter bringt bessere Ernte. Das ist Wunschdenken. Natürlich fällt mit Wachstum alles leichter: Die Steuereinnahmen steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt und Schulden können leichter abbezahlt werden. Wir verhalten uns so, als würden wir ein Segelschiff bauen und dabei annehmen, dass der Wind jeden Tag weht. Unser Schiff sollte auch mit Windstille zurechtkommen. Wir brauchen Wachstum nicht, wir sehnen es herbei. Und zwar ausschließlich im Sinne von Reichtum. Wir wollen immer reicher und reicher werden.
Wollen Sie damit sagen, dass wir Wirtschaftswachstum genauso wenig beeinflussen können wie die Wetterlage? Also gar nicht?
Nein, aber fast. Langfristig haben sich kommunistische und kapitalistische Staaten stark auseinanderentwickelt: Ost- und Westdeutschland etwa, Nord- und Südkorea oder Tschechien und Österreich. Wenn man ein totalitäres Regime Jahrzehnte lang fehlsteuert, trampelt man die Wirtschaft nieder. Entwickelte Volkswirtschaften sollten für Wachstum bereit sein, aber erzeugen können sie es nicht. Außer, sie stimulieren die Wirtschaft künstlich mit Defiziten. In meinen Augen ist schuldenfinanziertes Wachstum aber kein Wachstum: Wenn wir im gleichen Jahr zwei Prozent BIP-Wachstum haben und zwei Prozent BIP-Defizit, ist offensichtlich, wo das Wachstum herrührt. Wir können Wachstum herbeischwindeln, aber die echte Wirtschaftsentwicklung können sich Ökonomen noch immer nicht erklären. Sie überrascht uns immer wieder.
Was ist Ihre Alternative?
Oberstes Ziel sollte sein, eine stabile Wirtschaft zu haben. Wenn man auf eine wachsende Wirtschaft abzielt, nimmt man an, dass sie nicht reif ist. Man erwartet ja auch nur von Kindern, dass sie wachsen. Also sollten wir die Wirtschaft stabilisieren, indem wir die Staatsschulden zurückzahlen. Das geht mitunter auf Kosten des Wirtschaftswachstums. Wir müssen aber sicherstellen, dass Regierungen auf Reserven zurückgreifen können, wenn die nächste Rezession kommt – und die kommt bestimmt.
Welchen Anreiz haben Regierungen, Schulden zurückzuzahlen? Das sind langfristige Entscheidungen, die sich innerhalb einer Regierungsperiode kaum lohnen.
Das stimmt, es gibt keinen Anreiz. Griechenland hat sich absolut rational verhalten: Mache so viele Schulden, wie du kannst, dann zahlen andere EU-Staaten für den Crash. Deswegen finde ich es falsch, dass Politiker entscheiden, wie viele Schulden ein Staat macht. Politiker können ja auch kein Geld drucken, weil die National- und Zentralbanken darüber entscheiden – deren Chefs übrigens nicht gewählt, sondern ernannt werden. Solch eine unabhängige Institution brauchen wir auch für die Fiskalpolitik. Dieses Gremium sollte entscheiden, ob wir niedrige Steuersätze und niedrige Staatsausgaben wollen, wie etwa in den USA. Oder hohe Steuern und hohe Ausgaben am Beispiel Skandinaviens. Was aber nicht erlaubt sein sollte: Mehr ausgeben, als man einnimmt. Das ist eine fiskale Schizophrenie der meisten westlichen Staaten. Das kann einfach nicht für immer weitergehen.