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"Wie Hunde an der elektronischen Leine"

Von Michael Schmölzer

Wirtschaft
Ist Abschalten bald die angesagte Form der Selbstoptimierung?

Viele Angestellte sind 24/7 erreichbar. Frankreich will das stoppen: Die Folgekosten sind zu hoch.


Wien. "Arbeitnehmer verlassen zwar physisch das Büro, aber ihre Arbeit lassen sie nie zurück. Sie hängen wie Hunde an einer Art elektronischen Leine", formuliert es Benoit Hamon, Politiker der französischen Parti Socialiste. Was für Frankreich gilt, stimmt im Fall Deutschland umso mehr: Laut Umfrage checkt dort fast jeder zweite Berufstätige nach Dienstschluss seine beruflichen E-Mails. Etwa jeder Dritte hat in seinem letzten Urlaub mindestens einmal in die Dienstmails geschaut. In Frankreich ist ein Drittel der höheren Angestellten rund um die Uhr erreichbar.

In Österreich ist die Lage ähnlich: "Aus meiner Berufspraxis weiß ich, dass Anrufe von Arbeitgebern während der Freizeit von Arbeitnehmern weit verbreitet sind. Ich kenne Menschen, die noch um 23 Uhr Aufträge erhalten", sagt Wolfgang Mazal, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien.

Die ständige Erreichbarkeit, eine neue Form von unbezahlten Überstunden und eine neue Form der Schwarzarbeit: Laut Statistik des deutschen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung leisteten deutsche Berufstätige im vergangenen Jahr eine Milliarde unbezahlte Überstunden. Es gehört zum guten Ton, spätnachts zum Handy zu greifen oder Mails zu checken. Die Chefs registrieren diesen Aufwand ihrer Mitarbeiter kaum.

Frankreich zieht Notbremse

Die Folgen sind fatal. Längst ist erwiesen, dass die Leistungsfähigkeit spätestens nach zehn Stunden Arbeit rapide abnimmt und die Zahl folgenschwerer Fehlentscheidungen zunimmt. Von den Kosten berufsbedingter psychischer Zusammenbrüche gar nicht zu reden. Frankreich hat jetzt die Notbremse gezogen: Arbeitnehmern wird grundsätzlich das Recht eingeräumt, Smartphones für berufliche Zwecke nach Dienstschluss abzuschalten und damit alle beruflichen Mails und Telefonate zu ignorieren. Das gilt für Unternehmen mit mehr als 50 Arbeitnehmern. Allerdings: In welchem Umfang die Unternehmen das "Recht auf Abschalten" verankern, soll zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern ausgehandelt werden.

In Österreich muss der Arbeitnehmer während seiner Abwesenheit nicht dafür sorgen, für Chef oder Kollegen erreichbar zu sein. Rufbereitschaft kann laut Arbeitsrechtler Mazal vereinbart werden, muss aber abgegolten werden. So steht es auf dem Papier, doch das ist geduldig, weiß Mazal.

"Man darf einem Angestellten nicht vorwerfen können, dass er um 23 Uhr nicht vernetzt war, um über ein Treffen am nächsten Morgen um neun Uhr informiert werden zu können", sagt Bruno Mettling, Personalvorstand des Telekommunikationsriesen Orange. Er hat im Auftrag der französischen Regierung eine Studie verfasst. Ein Problem sei, dass es offiziell zwar keine Verpflichtung für Angestellte gebe, auch außerhalb der Arbeitszeit erreichbar zu sein. Viele hätten aber das Gefühl, dass das von ihnen erwartet werde.

Die Sache hat aber zwei Seiten und auch Gewerkschafter sind mehrheitlich nicht für eine strikt einheitliche Regelung in diesem Bereich. Denn flexible Arbeitszeiten oder etwa Homeoffice sind durchaus im Interesse jener Arbeitnehmer, die sich etwa um ihre Kinder kümmern. Hier geht es laut Gewerkschaft darum, eine Vereinbarung zu finden, bei der der Werktätige nicht ausgenutzt wird.

Die gesundheitlichen Folgen des permanenten Standby-Modus sind jedenfalls gut erforscht. Neben dem Burn-out, also einem kompletten Zusammenbruch, der monatelange Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat, sind das Schlafstörungen, Bluthochdruck und psychische Beschwerden wie Ängstlichkeit oder Depressionen.

Auch Arianna Huffington, Gründerin der Onlinezeitung "Huffington Post", empfiehlt in ihrem Buch "Die Schlaf-Revolution", Handy und Laptop in der Freizeit, vor allem aber aus dem Schlafzimmer zu verbannen. Nach einem Total-Kollaps vor neun Jahren singt die einst ruhelose Medienfrau über mehrere hundert Seiten ein Loblied auf ausgedehnte Ruhezeiten. Der mit Tabletten vollgepumpte "Arbeits-Zombie" mit schwarzen Augenringen, heißt es hier, sei auch in der hippen Trendfabrik Silicon Valley nicht mehr gefragt, sondern eine Bedrohung für die betroffene Person und deren Umwelt, predigt Huffington. Sie hofft, dass Abschalten bald die angesagte Form der Selbstoptimierung ist.

Mit sanfter Gewalt

Globale Konzerne sind längst dazu übergegangen, ihren Mitarbeitern Smartphone und Laptop mit sanfter Gewalt aus der Hand zu nehmen. Nicht aus Gründen der Nächstenliebe, sondern im Sinne eines gesteigerten Profits, der sich mit Zahlen messen lässt. Denn Burn-out und übermüdungsbedingte, folgenreiche Fehlentscheidungen kosten unter dem Strich mehr, als ruhelose Dauerarbeiter dem Unternehmen bringen. Laut OECD-Studie kostet ein arbeitsbedingter Zusammenbruch 100.000 Euro und mehr. In Österreich sind psychische Erkrankungen schon der häufigste Grund für den Gang in die Invaliditätspension. Laut Studie beträgt der volkswirtschaftliche Schaden hierzulande sieben Milliarden Euro. Die Zahl der Burn-out-gefährdeten Österreicher und Österreicherinnen wird mit 1,5 Millionen angegeben.

Der Volskwagen-Konzern mit mehr als 600.000 Mitarbeitern weltweit hat schon vor Jahren reagiert und eine E-Mail-Sperre für die Tarifmitarbeiter eingerichtet. In den Randzeiten - etwa abends - werden sie von E-Mails abgekoppelt. Sie können dann weder Mails empfangen noch senden. Daimler stellt seinen Mitarbeitern frei, eingehend E-Mails während ihres Urlaubs einfach löschen zu lassen.