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Dunkle Wolken über Londoner City

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Wirtschaft

Wegen des Brexits sieht der Boss der Londoner Börse schon eine Viertelmillion Jobs im Finanzbereich verschwinden.


London. Ein neuer Büroturm nach dem anderen reckt sich zur Zeit in den Himmel über London. Dutzende weiterer imposanter Wolkenkratzer sind entlang der Themse geplant - zur Demonstration ungebrochenen Ehrgeizes im "führenden Finanzzentrum der Welt". In den schon länger hier angesiedelten Finanzhäusern schaut man aber mit Sorge auf die Neubauten und Baustellen in der City. Gibt es zu Anfang dieses Jahres wirklich noch guten Grund für solche Zuversicht? Oder baut man umsonst? Wird man sich bald in einer Geisterstadt statt in einer sprudelnden Geld-Oase wiederfinden? Der Brexit, die kommende Abkoppelung Großbritanniens von der EU, liegt zurzeit wie ein schwerer Schatten über den Betonburgen und Glaskuppeln des Londoner Finanzbezirks.

Denn in wenigen Wochen schon, warnen prominente City-Stimmen, werden die Großbanken erste Entscheidungen über den möglichen Abzug von Stellen treffen müssen. Fast eine Viertelmillion Jobs könnten dem britischen Finanzgewerbe und enorme Summen der Staatskasse verloren gehen, wenn es zum "falschen" Brexit kommt.

Notfall-Pläne

Vor allem aus Paris und Dublin wird reges Interesse an der Neuregistratur von Firmen gemeldet, die bislang von Großbritannien aus operierten. Binnen weniger Jahre, heißt es, könne die britische Hauptstadt ihre Spitzen-Position im Finanzbereich eingebüßt haben. Warnungen in dieser Richtung bekommt man jetzt immer häufiger zu hören. So hat Xavier Rolet, der Generaldirektor der Londoner Börse, erklärt, ein britischer Bruch mit der EU ohne Übergangsregelungen könne Folgen haben, bei denen es um "unvorstellbar hohe Summen" ginge.

Gemeint sind Clearing-Geschäfte in Höhe von 573 Milliarden Dollar täglich, von denen London zurzeit rund drei Viertel abwickelt. Bei einem entsprechenden Verlust, meint Rolet, drohe London seine "globale Führungsrolle" einzubüßen - und der britische Staat enorme Steuergelder aus der City.

Dem Vereinigten Königreich als Ganzem könnten bei einem "schlechten" Brexit über 230.000 Arbeitsplätze im Finanzbereich verloren gehen, warnt der Börsenchef unter Verweis auf eine Studie der Beraterfirma Ernst & Young. Vor allem brauche die Finanzwirtschaft für Brexit-Vorbereitungen mindestens drei Jahre zusätzlich zu der von der EU vorgesehenen maximal zweijährigen Verhandlungszeit in Brüssel. Bisher herrsche aber, warnt Rolet, über die britischen Brexit-Absichten gefährliche Ungewissheit.

Diese Ungewissheit verursacht auch Douglas Flint, dem Vorstandsvorsitzenden der größten britischen Bank HSBC, schlaflose Nächte. Für Flint ist das Londoner Finanzzentrum wie ein riesiger "Jenga-Turm" aus kleinen Holzbausteinen. Wenn man irgendwo einen Baustein herausziehe, wisse man nicht, ob der Turm stehen bleibe oder in sich zusammenstürze, meint Flint.

HSBC hat bereits angekündigt, dass es erwägt, nach Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft mindestens 1000 Stellen nach Paris zu verlegen. Goldman Sachs will notfalls 2000 Posten aus Großbritannien abziehen und JP Morgan 4000, bei Bedarf. Ein Teil des Clearing Business würde sich nach New York verlagern, vermutet Börsen-Boss Rolet. Aber auch in diversen Finanzzentren der EU registriert man bereits starke Nachfrage nach mehr EU-Präsenz von Banken mit bislang britischem Domizil.

Fast alle Finanzhäuser in London hätten inzwischen Notfall-Pläne erarbeitet, die möglicherweise schon im nächsten Monat, anlässlich der Bekanntgabe der jährlichen Finanzergebnisse, enthüllt würden, erklärt Andrew Gray, Brexit-Experte der Beraterfirma PricewaterhouseCoopers. Für März hat Premierministerin Theresa May die Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft angekündigt. Dann wird es ernst.

Vor allem Schweizer Banken und US-Banken würden auf diese Mitgliedschafts-Kündigung im März "so gut wie unmittelbar" reagieren, prophezeit HSBC-Chef Flint. Die meisten Finanzhäuser sollen Stufenpläne vorbereitet haben. Für sie hängt viel davon ab, ob Übergangsregelungen vorgesehen sind, die ihnen Zeit zur Anpassung lassen.

Dass Großbritannien auf Dauer im EU-Binnenmarkt verbleiben wird, glaubt jedenfalls kaum noch jemand. Damit ist auch der freie Zugang zu den EU-Finanzmärkten - der sogenannte "Passport" - in Frage gestellt. Offenbar hofft Regierungschefin May noch auf spezielle Zusagen der EU für die City. Ihr klarer Entscheid gegen Freizügigkeit in Europa und ihre grundsätzliche Ablehnung aller Befugnisse des Europäischen Gerichtshofs lassen aber wenig Spielraum.

Für Brexit-Hardliner, denen schon Übergangsregelungen verdächtig sind und die sich auch einen Bruch mit der EU ganz ohne vertragliche Absprachen vorstellen können, sind all diese Warnungen nur Hirngespinste. Solche "Schauermärchen", findet der landesbekannte Brexiteer und Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg, könnten glatt dem Drehbuch der Fernseh-Serie "Hammer House of Horrors" entlehnt sein.

"Unnötig pessimistisch"

Als "reine Übertreibung" und "unnötig pessimistisch" betrachtet auch der konservative Ex-Minister John Redmond die Angst vor dem großen Exodus aus der City. Ein anderer Tory-Parlamentarier, der Brexit-Wortführer Steve Baker, ist sich sicher, "dass keine Gefahr besteht, dass London seinen Status als wichtigstes Finanzzentrum Europas einbüßt".

Er habe keinen Zweifel daran, versichert auch Mark Boleat von der City of London Corporation, der traditionellen Selbstverwaltung der Square Mile, "dass die City of London der Welt führendes Finanzzentrum bleibt - egal, was 2017 passiert". Boleat will, dass trotz Brexit niemand an Jenga-Türme denkt und dass hübsch weiter gebaut und investiert wird in der City. Auch wenn er einräumt, dass "beträchtliche Nervosität" herrscht in der Stadt.