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"Die afrikanische Migration wird steigen"

Von Klaus Huhold

Wirtschaft

Afrika-Experte Alex Vines über die Folgen der hohen Geburtenraten und wie sinnvoll ein Marshallplan für Europas südlichen Nachbarn ist.


"Wiener Zeitung": Die EU plant einen Marshallplan für Afrika - ein Projekt, das sehr stark von deutscher und österreichischer Seite vorangetrieben wird. Ist das ein erfolgsversprechendes Konzept?Alex Vines: Ein allumfassender Plan für den ganzen Kontinent wird schwierig umzusetzen sein. Denn das Wirtschaftswachstum hat in Afrika unterschiedliche Geschwindigkeiten, verschiedene Regionen sind verschieden entwickelt. Die Afrikanische Union hat ebenfalls eine Vision, die sich Agenda 2036 nennt. Es liegen also verschiedene Pläne auf dem Tisch. Meiner Meinung nach sollte man bei solchen Vorhaben regionale Schwerpunkte setzen und sich dabei auf einzelne, regionale Blöcke konzentrieren. Ecowas (westafrikanischer Staatenbund, Anm.) hat zum Beispiel große Fortschritte in der gemeinsamen Sicherheits-, aber nicht so sehr in der Handelspolitik gemacht.

Wo könnte man hier ansetzen?

Ein großes Defizit in Afrika ist der Handel zwischen den einzelnen Ländern. Die ausländischen Direktinvestitionen, die Entwicklungszusammenarbeit und auch die Geldüberweisungen der afrikanischen Diaspora reichen nicht aus, deshalb müsste für ein höheres Wachstum der Handel zwischen den Staaten steigen. Das könnte zunächst über regionale Vereinigungen geschehen, die dann langfristig den ganzen Kontinent überspannen könnten. Eine Priorität sollte also sein, Grenzen stärker zu öffnen und Zölle herunterzufahren. Ein Beispiel: Waren innerhalb Südafrikas von Johannesburg nach Kapstadt zu transportieren, dauert etwa 12, 13 Stunden. Von Johannesburg nach Lusaka, der Hauptstadt von Sambia, kann dieser Transport fast drei Wochen dauern. Die damit verbundenen Kosten und Zölle machen die Waren in Sambia dann freilich auch viel teurer.

Dabei wurde Afrika in den vergangene Jahren als aufsteigender Kontinent gefeiert, der Anschluss an die Globalisierung findet und in dem sich eine neue Mittelschicht bildet.

Dieses Narrativ hat auch gestimmt. Aber das Wirtschaftswachstum hat sich enorm verlangsamt. Während es über 15 Jahre hinweg bei etwa acht Prozent lag, betrug es vergangenes Jahr nur 1,1 Prozent - der geringste Wert seit 20 Jahren. Das zeigt, wie abhängig viele Staaten von den Rohstoffpreisen sind. Eine bessere Entwicklung nehmen Wirtschaften, die diversifiziert sind, etwa Cote d’Ivoire. Dort betreibt man nicht nur Rohstoffabbau, sondern besitzt auch einen ausgeprägten Dienstleistungs- und Agrarsektor.

Im subsaharischen Afrika wächst aber auch die Bevölkerung rasant, in vielen Ländern sprechen Statistiken von vier bis sechs Kindern pro Frau. Droht das nicht, jedes Wirtschaftswachstum aufzufressen?

Es gibt tatsächlich das große Problem, dass es am regulären Arbeitsmarkt nicht genügend Jobs für die vielen jungen Leute gibt. Dafür bräuchte es ein jährliches Wirtschaftswachstum von mindestens acht bis zehn Prozent. Das müsste zudem breit angelegt sein und dürft nicht nur den Eliten zugutekommen. Meiner Einschätzung werden in Zukunft einige Länder sehr hohe Wachstsumsraten aufweisen - das könnten Südafrika, Teile von Nigeria, Cote d’Ivoire oder Ghana sein. Diese werden wiederum von Ländern umgeben sein, die hinterherhinken. Die Migration wird daher steigen.In diese erfolgreichen Länder werden viele junge Leute einwandern wollen, was diese unter Druck setzen wird.

Aber wird nicht auch auf Europa der Migrationsdruck steigen?

Wesentlich mehr Migration wird innerhalb Afrikas stattfinden, aber auch die Auswanderung Richtung Europa wird steigen. Denn Afrikaner, die die Vorteile der Globalisierung nutzen wollen, werden rationale Entscheidungen treffen. Manche werden sich dazu entschließen, dass sie sich in Europa eine bessere Zukunft suchen wollen. Das Konzept der Festung Europa wird deshalb nicht funktionieren, das sollten unsere Politiker realisieren. Ein gewisses Maß an Migration wird das alternde Europa auch brauchen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Aber was wäre denn ein anderer Zugang zu dem Thema?

Eine vollkommene Grenzöffnung funktioniert auch nicht. Wir brauchen Modelle, die ein gewisses Maß an legaler Migration zulassen. Dabei sollten wir jedoch kein reines Rosinenpicken betreiben und Afrika seine besten Leute wegnehmen, denn wir brauchen dort erfolgreiche Staaten. Migration hat immer schon stattgefunden. Die Rücküberweisungen der Auswanderer sind auch eine wichtige Förderung afrikanischer Staaten und bewirken dort wiederum Geschäftsgründungen. Das alles ist nicht böse oder schlecht, man muss nur einen Umgang damit finden. Aber Europa fehlt dafür momentan der politische Mut. Denn gegenwärtig befindet sich Europa selbst in einer existenziellen Krise, ringt um seine Identität und populistische Parteien sind am Vormarsch. In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden die beiden Nachbarn Europa und Afrika jedoch nicht umhinkommen, sich grundlegende Gedanken über Migration zu machen.

Mittlerweile gibt es einen weiteren Akteur in Afrika, nämlich China. Was bedeutet das für Afrika - und für Europa?

Für afrikanische Staaten ist es ein Vorteil, verschiedene Partnerschaften zu haben. Europa und Afrika waren sich zu nahe, Europa hat Afrika dominiert und kolonialisiert. Wir brauchen eine ausbalanciertere, gerechtere Beziehung. Wegen der kolonialen Vergangenheit braucht das aber seine Zeit. Geschickte afrikanische Regierungen binden sich weder an die eine noch andere Seite zu sehr. Und das ist ja auch eine positive Entwicklung: Afrika wächst immer mehr in das internationale System hinein. Einige Wirtschaften wachsen nachhaltig und das eröffnet Möglichkeiten. Es gibt dort viele junge Talente und viele Innovationen werden zukünftig aus Afrika kommen.

Spielen Sie darauf an, dass jetzt schon kaum wo so viele Bankgeschäfte so effizient über das Handy abgewickelt werden wie in Kenia?

Zum Beispiel. Oder es gibt immer mehr Produkte, die in Afrika selbst produziert werden, anstatt dass man nur Rohstoffe exportiert. Es gibt also Gründe, nicht zu pessimistisch zu sein. Gleichzeitig muss man realistisch bleiben. Denn es bleibt dieser Überhang an jungen Leuten, in vielen Regionen gibt es weiterhin eine extreme Armut, und die afrikanische Wirtschaft nimmt in der globalisierten Welt weiterhin nur eine Randposition ein.

ZuR Person

Alex

Vines

ist Direktor des Afrika-Programms der renommierten britischen Denkfabrik Chatham House. Zudem war er Vorsitzender und Mitglied verschiedener UN-Kommissionen zu Afrika. Er war auf Einladung des Bruno-Kreisky-Forums bei der Tagung "Afrika. Dimensionen eines Kontinents" zu Gast.