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"Die sozialen Dimensionen gehen verloren"

Von Anja Stegmaier aus Alpbach

Wirtschaft
"In vielen Fällen geht saisonal vor regional", sagt Laura Raynolds über nachhaltigen Konsum.
© Andrei Pungovschi

Die Soziologin Laura Raynolds über fairen Handel, Äpfel aus Chile und die Rolle der Konsumenten bei der Digitalisierung.


"Wiener Zeitung": Wie fair ist eigentlich Fairtrade?

Laura Raynolds: Das ist komplizierter, als man denkt, denn es gibt zahlreiche Aspekte, die man beachten muss. Fairer Handel ist zunächst einmal eine Idee. Die Idee, dass Handel gerechter sein sollte. Es gibt eine Reihe an Initiativen, die versuchen, das umzusetzen - die bekannteste in Europa ist das Fairtrade International Label -, und bestimmte Standards haben. Die eigentliche Frage ist aber: Können wir damit wirklich Gerechtigkeit in der Welt erreichen? Helfen die Initiativen uns, die Bedingungen der Produktion, des Handels und des Konsums zu verändern, sodass wir Gerechtigkeit fördern können? Die Fairtrade-Siegel denken gerne von sich, dass sie das tun. Aber ich glaube, niemand, der in diesem Bereich arbeitet, würde behaupten, dass perfekte Fairness erreicht wurde. Und selbst wenn, dann wären diese Produzenten am Markt in der Unterzahl. Es ist also nicht fair, solange es nicht für jeden fair ist. Es ist auch nicht fair, solange nicht alle Waren fair sind. Es geht bei der Sache also darum, die Dinge zumindest fairer zu machen.

Worauf sollten die Konsumenten grundsätzlich beim Kauf von Produkten achten?

Beim Konsum sollten wir mehr über die sozialen Probleme und nicht nur über die Umweltprobleme nachdenken. Mir fällt bei der ganzen Debatte um nachhaltigen Konsum auf, dass die sozialen Dimensionen verlorengehen. Wir müssen wirklich immer beide Dimensionen - die Umwelt und das Soziale - im Blick haben. Denn schließlich geht es um eines: Die Menschen als Teil der Umwelt gehören dazu. Wir greifen uns leider auch häufig bloß eine Facette heraus: Themen, die viel Aufmerksamkeit bekommen, wie Kinderarbeit oder Tierversuche.

Ist Bio immer die beste Entscheidung?

Bio sagt überhaupt nichts über die sozialen Bedingungen aus, in denen produziert und gehandelt wurde. Wir sollten uns also nicht nur fragen, ob das Produkt biologisch hergestellt wurde oder nicht. Wichtig ist: Wie sind die Arbeitsbedingungen der Arbeiter auf dem Feld, die diese Bioprodukte geerntet haben? Selbst eine Biozertifizierung bedeutet nicht, dass die Arbeiter etwa einen Mindestlohn bekommen.

In Discountern gibt es auch schon billige Bioprodukte. Aber oftmals nicht aus Österreich, sondern von weit weg . . .

Die Konsumenten machen es sich da manchmal leicht. Importierte Ware bedeutet langer Transportweg, also absolut vermeiden. Aber das heißt nicht, dass zu diesem Zeitpunkt die Ware aus dem Inland viel besser ist. In vielen Fällen geht saisonal vor regional. Ich muss im Winter nicht Erdäpfel aus Ägypten kaufen, die kann man in Österreich einlagern. Aber es gibt im Winter keine österreichischen Zucchini, die muss man aus dem Ausland kaufen oder riesige Gewächshäuser bauen und mit viel Energie betreiben - das wäre allerdings umwelttechnisch die viel größere Katastrophe, als das Gemüse zum Beispiel aus Ägypten zu importieren.

Geht es nicht vielmehr auch darum, auf Produkte verzichten zu können?

Bei Lebensmitteln ist es immer die beste Entscheidung, Gemüse und Obst zu kaufen, das gerade lokal Saison hat. In Österreich heißt das: Im Sommer kann ich hier sehr viel essen. Für den Winter muss ich über einfache Lagermöglichkeiten nachdenken für Produkte wie Erdäpfel, Kürbisse oder Äpfel. Bei nichtsaisonalen frischen Produkten, die ich nicht lagern kann, muss ich mich fragen: Will und brauche ich die überhaupt? Es ist jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung, weniger von diesen Produkten zu konsumieren. Und wenn wir dann auf international gehandelte Produkte zurückgreifen, dann sollten wir versuchen, diese umweltfreundlicher und fairer zu produzieren und zu handeln. Das Beispiel schlechthin: Kaffee. Keiner wird je in Österreich Kaffee anbauen. Hören wir jetzt alle auf, Kaffee zu trinken? Ich denke, nicht.

Ich kaufe also keine Äpfel aus Chile oder Südafrika im Supermarkt. Da gibt es Leute, die sagen, die Bauern in Chile wollen aber doch auch etwas verdienen . . .

Klar, wir wollen anderen den Lebensunterhalt nicht streitig machen. Es gibt aber viele Konsumenten, die gerne chilenische Äpfel essen würden - in Chile selbst nämlich. Wenn wir mehr regionale und saisonale Produktions- und Konsumsysteme aufbauen, dann gilt das nicht nur für Österreich, sondern auch für Chile und Südafrika. Vor Ort sollte ein Markt für diese Produkte entstehen, aber auch eine Vervielfältigung des Angebots. Die Bauern sollten sich nicht etwa nur auf den Anbau von Äpfeln für den Export spezialisieren.

Inwiefern ist Konsumieren ein politischer Akt?

Konsum kann ein politischer Akt sein. Wenn wir verantwortungsvollen Konsum wollen, genügt es aber nicht, einfach einkaufen zu gehen und die richtige Wahl zu treffen. Wir brauchen ein kollektives Bemühen und müssen sicherstellen, dass die Regierungen, die wir wählen, und die Repräsentanten in den Institutionen, die wir als Bürger mit unseren Steuern unterstützen, diese Bemühungen bestärken und vertreten. Wenn wir das nur als individuelle Konsumenten verfolgen, wird sich nicht wirklich etwas ändern. Alles, was das "Ich" als Konsument tut, ist kaufen. Das Verständnis geht über das "Uns" als Konsumenten, zum "Wir" als Bürger, die wir ausdrücken können, was wie produziert und gehandelt werden soll.

Bietet die Digitalisierung hierfür Chancen?

Nachhaltiger, verantwortungsvoller Konsum ist nicht einfach, die Entscheidungen zu treffen ist kompliziert. Digitalisierung kann helfen, an sämtliche Informationen zu gelangen und diese auch auszuwerten. Das betrifft wichtige Aspekte wie Gesundheit, Soziales und Umwelt, denn die Frage ist immer: Wie können wir das alles wissen? Ein Label ist nur ein Sticker, aber es gibt bereits Innovationen in der mobilen Technologie, die Anwendung finden, wie etwa Barcode-Scanning. Mit dem Smartphone kann der Kunde den Strichcode scannen und erhält Informationen zum Produkt aus einer Datenbank. Das ist immer noch viel Arbeit, denn kaum ein Konsument will in den Supermarkt gehen und jedes Produkt erst einmal scannen und sich etwas dazu durchlesen - das nimmt zu viel Zeit in Anspruch. Es ist keine perfekte Lösung. Außerdem: Selbst wenn alle in den Supermarkt gehen und scannen, ist das beste Produkt vielleicht das vom Nachbarn, das gar keinen Barcode hat. Ich sehe da positive Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der neuen Technologie.

Wie ändert die Digitalisierung die Rolle der Konsumenten?

Natürlich bieten neue Technologien und Medien die Möglichkeit, sich besser zu informieren und zu organisieren. Das ist wichtig. Aber unsere Kaufentscheidungen sind stark geprägt von sozialen Gewohnheiten. Es ist vielmehr die Frage, was wir immer getan haben und welche Handlungen wir bei anderen gesehen haben. Das ist ein wichtiger Hebel, wenn es darum geht, wie wir verantwortungsvoller handeln können. Soziale Lösungen sind vielleicht doch wichtiger. Die bisherige Beobachtung von Konsumenten zeigt: Was du kaufst, hat schon deine Mutter gekauft und kaufen deine Freunde - das beeinflusst unsere Konsumgewohnheiten viel stärker als technische, theoretisch verfügbare Information.

Zertifizierungen, Barcode-Scanning - das sind Chancen für große Händler und Produzenten, die bereits mitmischen. Welche Chance haben die Kleinen?

Die Chancen für die kleinen Produzenten, besonders bei Lebensmitteln, wachsen ungemein schnell. Es gibt immer mehr Konsumenten, die lieber Lokales essen und in kleineren Läden kaufen. Sie besuchen Bauernmärkte, bestellen Bauernkisten - all diese alternativen Wege, auch mittels Sharing Economy, Lebensmittel zu erwerben, wachsen weltweit. Kleinere Landwirte generieren neue Märkte und steigern ihre Einnahmen mit dem Verkauf von Produkten, die gar nicht im Supermarkt zu finden sind und es auch nie hinein schaffen würden.

Auf dem Land wird gerne mit dem Auto zum großen Supermarkt gefahren, während der Greißler im Ort zusperrt . . .

Die Handelskonzentration in Europa ist sehr hoch, das ist eine ziemliche Herausforderung. In den USA ist die Konzentration des Einzelhandels geringer, wir haben mehr Supermärkte. Wir haben aber auch mehr alternative Wege, über die Bauern ihre Produkte verkaufen. Wir haben zahlreiche Bauernmärkte, aber auch die Kistenlieferung von Bauern direkt an die Kunden wächst enorm.

Laura Raynolds ist Professorin für Soziologie an der Colorado State University in Fort Collins und Mitgeschäftsführerin des dort angesiedelten Zentrums für fairen und alternativen Handel (CFAT). Sie hat beim Europäischen Forum in Alpbach ein Seminar zum Thema bewusster Konsum gehalten.