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Die schöne neue Welt des Datenkapitalismus

Von Thomas Seifert

Wirtschaft

Digitalisierung, Industrie 4.0: Das sind nicht bloß Schlagwörter, sondern die Beschreibung der rasanten Entwicklung der Gegenwart.


Wien. Der Ökonom Milton Friedman steht in den 1960er Jahren an einer riesigen Baustelle in Asien. Scharen von Bauarbeitern arbeiteten an einem groß angelegten Kanal-Projekt - nur mit Schaufeln und Spitzhacken. Von schweren Baumaschinen, Baggern, Planierraupen oder Kränen ist kaum etwas zu sehen. Friedman - er ist damals Berater eines asiatischen Entwicklungslands - erkundigt sich beim zuständigen Beamten über den spärlichen Einsatz schweren Geräts. Das Projekt diene der Arbeitsbeschaffung, lautete die Antwort des Beamten. Friedmans Antwort: "Warum geben Sie den Männern dann statt Schaufeln nicht Löffel?"

Friedmans Sarkasmus passt gut zur radikalliberalen Haltung des 2006 verstorbenen Nobelpreisträgers. Aber er lag mit seinem Spott auch nicht ganz falsch: Denn der technische Fortschritt, darauf weist der Sachbuchautor Martin Ford in seinem Buch "Aufstand der Roboter" (in dem auch dieser legendäre Dialog zwischen Friedman und dem Beamten widergegeben ist) hat während des 20. Jahrhunderts der Gesellschaft zu beträchtlichem Wohlstand verholfen. Es habe immer wieder gewaltige Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt gegeben, aber diese haben sich dann immer wieder eingerenkt, schreibt Ford: "Die Mechanisierung der Landwirtschaft vernichtete Millionen Arbeitsplätze, scharenweise strömten daraufhin Landarbeiter auf der Suche nach Fabrikarbeit in die Städte. Später verdrängten die Automatisierung und die Globalisierung Arbeiter aus der verarbeitenden Industrie und trieben sie in neue Anstellungen im Dienstleistungssektor.

Während der Übergangsphasen war kurzzeitige Arbeitslosigkeit immer wieder ein Problem, aber die Zustände wurden nie systemisch oder dauerhaft. Neue Arbeitsplätze entstanden und vertriebenen Arbeitern eröffneten sich neue Möglichkeiten." Steigende Produktivität habe so zu steigendem Wohlstand geführt. Doch im 21. Jahrhundert erstreckt ökonomische Aktivität sich über den gesamten Globus - im Unterschied zum 20. Jahrhundert, in dem bis in die 1980er Jahre etwa die heutige Wirtschaftssupermacht China kaum am internationalen Handel teilgenommen hat - genauso wenig wie heutige Produktionsstandorte wie Bangladesch, Thailand, Indonesien, Indien oder Sri Lanka. Der Handel des Westens mit den damaligen Ländern des Ostblock-Wirtschaftsbündnisses, Comecon (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) - von denen heute viele Mitglieder der Europäischen Union sind - war ebenfalls vernachlässigbar. Die Weltwirtschaft war fragmentiert und der Handel innerhalb der Machtblöcke isoliert - das ist heute freilich anders.

Wir verwandeln uns in Zukunft

Globalisierung war bislang die wichtigste Triebfeder des rasanten Wandels, nun ist es der technologische Wandel, der der Hauptgrund für die gewaltigen Umwälzungen ist. Die Zukunft hat längst begonnen. "... Es sprechen viele Anzeichen dafür, dass die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht" - diese Weisheit teilte der Dichter Rainer Maria Rilke schon im Jahr 1904 in einem Brief an den österreichischen Schriftsteller und Journalisten Franz Xaver Kappus mit. Heute ist es nicht anders. Die wolkige Zukunft der vierten industriellen Revolution, mit ihren neuen Technologien von autonomen Autos, 3D-Druck, Nanotechnologie, künstlicher Intelligenz, Durchbrüchen in der Neurowissenschaft, Quantencomputern, hochmodernen Robotern, dem Internet der Dinge und neuen Werkstoffen ist zur konkreten Gegenwart geronnen. Und wie der Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums (World Economic Forum), Klaus Schwab in seinem Buch "Die vierte Industrielle Revolution" darlegt, geht diese Revolution mit atemberaubender Geschwindigkeit und mit einer Breite und Tiefe vonstatten, die "zu beispiellosen Paradigmenwechseln in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, aber auch in der individuellen Lebensgestaltung führen. Sie ändert nicht nur, was wir tun und wie wir es tun, sondern auch, wer wir sind", schreibt Schwab.

Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee kommen in ihrem Buch "Das zweite Maschinenzeitalter" zu folgendem Schluss: Im bisherigen Maschinenzeitalter waren die Maschinen vor allem Helfer der Menschen, um die Arbeit zu erleichtern. Aber im neuen Maschinenzeitalter übernehmen die Maschinen immer mehr kognitive Aufgaben. In vielen Fällen können Computer, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind, bessere Entscheidungen treffen als Menschen. So würden sie menschliche Arbeitskraft nicht mehr bloß ergänzen und die Arbeit schneller, effizienter und einfacher machen, sondern menschliche Arbeitskraft in manchen Prozessen obsolet machen - ein wenig beruhigender Gedanke.

Angstmacher Beschleunigung

Der zweite Grund für Beunruhigung vieler Menschen: Beschleunigung. Die Schallmauer in der Geschwindigkeit der Entwicklung wurde vor 10 Jahren durchbrochen: Im Jahr 2007 revolutionierte Apple den Smart-Phone-Markt, mit Facebook (ist seit dem 26. September 2006 für die Öffentlichkeit verfügbar) und dem seit 2007 existierenden Kurznachrichtendienst Twitter begann ebenfalls vor 10 Jahren die Social-Media-Revolution. Seit 2007 existiert die Plattform AirBnB, die der Shared Economy zum Durchbruch verhalf, indem man dort seine Wohnung für Touristen anbieten kann. Google stellte 2007 das Betriebssystem für mobile Geräte Android vor, bei IBM begann man vor 10 Jahren mit der Arbeit an Watson, dem Supercomputer für künstliche Intelligenz.

Für den Bestsellerautor und Kolumnisten der "New York Times", Thomas L. Friedman, ist die Geschwindigkeit der Veränderung auch einer der Gründe für die politischen und sozialen Turbulenzen der letzten Jahre: Die heutigen Lern-, Ausbildungs- und Management-Systeme sowie die sozialen Sicherheitsnetze können mit der Geschwindigkeit der Entwicklung in Technologie und Wirtschaft längst nicht mehr Schritt halten. Friedman schildert ein Gespräch mit dem Chef des futuristischen Google-X-Labs, Astro Teller: Es habe Jahrhunderte von der Entwicklung von Pfeil- und Bogen bis zum großflächigen militärischen Einsatz dieser Waffentechnologie gedauert, sagt Teller. Im frühen 20. Jahrhundert sind dann nur mehr rund 30 Jahre vergangen, bis etwa das Auto oder das Flugzeug weite Verbreitung fanden. Heute dauere es nur mehr fünf bis sieben Jahre von der Einführung eines neuen Produkts und dessen weltweiter Verbreitung. Technologische Innovation geschehe nun schneller als der Mensch sich an die neuen Verhältnisse anpassen kann. "Und das verursacht kulturelle Angst", wird Teller in Friedmans Buch zitiert, "wir haben das Gefühl, dass wir die Kontrolle verlieren, weil wir nicht mehr schnell genug auf die Veränderungen reagieren können."

Mensch-Maschine-Minotaurus

Franklin Foer warnt in seinem Buch "World without mind" und zuletzt in einem Interview in der "Wiener Zeitung" davor, dass wir alle ein wenig wie Cyborgs werden. "Wir sind bereits dabei, mit Maschinen zu verschmelzen - unsere Mobiltelefone sind ja praktisch eine Verlängerung unserer Körper, an die wir Aufgaben auslagern - aber auf eine Art und Weise, in der wir nicht wohlüberlegt und umsichtig damit umgehen und nicht darauf achten, unseren menschlichen Kern zu bewahren." Dabei, so schreibt Foer in seinem Buch, würden wir ganz vergessen, dass hinter dieser Auslagerung ja IT-Konzerne stehen, deren Oligopole zu einer unglaublichen Marktmacht führen.

Vor genau dieser Marktmacht warnen auch der aus Österreich stammende und am Oxford Internet Institute tätige Rechtswissenschafter Viktor Mayer-Schönberger und "brand eins"-Wirtschaftsjournalist und "Economist"-Autor Thomas Ramge. Sie fordern, dass die Wettbewerbshüter darauf achten müssen, dass es eine größere Anzahl an digitalen Wettbewerbern gibt. Die Profite dürften nicht nur die großen Datenmonopolisten einstreichen, schreiben sie im Buch "Das Digital", das von den Umwälzung des Datenkapitalismus handelt.

Karl Marx hat in seinem Buch "Das Kapital" über die Dominanz von Unternehmen und Geld im Kapitalismus geschrieben. Unternehmen organisieren die Produktion, Preise verdichten die wichtigsten Informationen auf Märkten. Im Buch "Das Digital" wird erklärt, wie Big Data und Künstliche Intelligenz dies grundlegend verändern: Angebot und Nachfrage finden auf Marktplattformen künftig besser zusammen, digitale Entscheidungsassistenten helfen bei der Beurteilung der Informationen. Unternehmen verlieren ihre dominante Rolle, der Preis (und damit letztlich Geld) büßt seine dominante Rolle als wichtigster Informationsträger in der Wirtschaft ein. Mayer-Schönberger und Ramge skizzieren eine Zukunft eines gemeinschaftlichen Lebens, in der Wissen und Erkenntnis im Vordergrund stehen - für sie steht die Realität des "Datenreichtums" für den nächsten Schritt der Aufklärung. Dank hochgezüchteter Computertechnologie werde es gelingen, auf Vereinfachungen in Denkmodellen zu verzichten und "die Welt in all ihrer Vielfalt zu akzeptieren."

Für barrierefreies Denken

Douglas Rushkoff schreibt in in seinem Buch: "Throwing Rocks at the Google Bus - How growth became the enemy of prosperity" von einer Revolte, die gegen das derzeitige, auf purem Wachstum basierende Wirtschaftsmodell in Gang sei. "Die sieht manchmal wie Bitcoin oder Bernie Sanders aus und manchmal wie Brexit oder Donald Trump." Es gehe nicht um endloses Wachstum, sondern um "Flow", um die Umlaufgeschwindigkeit von Geld. Effizientere Märkte würden diese Entwicklung begünstigen, der Staat könne den Trend mit der Einführung von Vermögenssteuern bei gleichzeitiger Senkung von Lohn- und Einkommenssteuern unterstützen.

Der aus Österreich stammende Autor und "brand eins"-Journalist Wolf Lotter schreibt gerade an seinem Buch "Innovation - Streitschrift für ein barrierefreies Denken", das im Frühjahr 2018 bei der Editon Koerber herauskommt. Lotter sieht Innovation vor allen Dingen als kulturelle und soziale Entwicklung. Er wendet sich in diesem Buch gegen das Auseinanderdividieren von Alt und Jung und Modernisierungsgewinnern und -verlierern. "Innovation ist inklusiv und kein Elitenprogramm", sagt er im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", "eine neue Innovationskultur ist nicht bloß etwas mit ein bisschen ‚Digital‘, nicht bloß ein paar ‚Innovationsbeauftragte‘, die letztlich dafür sorgen sollen, dass alles so bleibt, wie es ist." Das Ziel sei eine Gesellschaft, in der man nicht seine Existenz aufs Spiel setzen muss, um innovativ zu sein. "Statt Fortschrittsängsten und schöpferischer Zerstörung brauchen wir einen nüchternen Zukunftsoptimismus, der konstruktiv ist."