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Im Teufelskreis

Von Matthias Punz

Wirtschaft

Die Schere zwischen Arm und Reich geht innerhalb vieler Länder so weit auseinander wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.


Wien. Da staunten manche nicht schlecht. Das reichste Prozent der Welt besitze über die Hälfte des weltweiten Vermögens, stellte Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), im Oktober bei einer Tagung fest. Diese exzessive Ungleichheit "hemmt das Wachstum, zerstört Vertrauen und befeuert politische Spannungen". Ihre Empfehlungen überraschten ebenfalls: Sie plädierte vor den in Washington versammelten Regierungschefs und Notenbankern unter anderem für stärkere soziale Sicherheitsnetze und höhere Steuern für Reiche.

Der IWF wäre vor wenigen Jahren noch eine der letzten Organisationen gewesen, an die man gedacht hätte, wenn es um die Forderung nach Umverteilung geht. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise vor nun schon knapp zehn Jahren ist die Frage der Ungleichheit aber wieder ins Zentrum vieler Debatten gerückt. Ungenierte Steuerpraktiken von Superreichen und Großkonzernen - wie zuletzt wieder durch die sogenannten "Paradise Papers" aufgezeigt - wirken als Brandbeschleuniger. Auch das Brexit-Votum und die Wahl Donald Trumps ins Weiße Haus verleihen der Thematik Brisanz.

Doch wie kann man der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen entgegenwirken? Soll man das überhaupt? Die Thematik beschäftigt die Menschheit schon seit Jahrhunderten. Viele Philosophen, Wissenschaftler und Politiker haben sich bereits den Kopf darüber zerbrochen, wie eine egalitäre Gesellschaft aussehen könnte.

Helfen nur tödliche Krisen gegen Ungleichheit?

Der 1966 in Wien geborene Historiker Walter Scheidel ist einer von ihnen. Der gebürtige Wiener forscht und lehrt an der renommierten Stanford Universität in den USA. Anfang des Jahres löste er mit seinem aktuellsten Werk "The Great Leveler" eine kontroversielle Debatte aus. Scheidel wagte den ambitionierten Versuch, die Entwicklung der Ungleichheit von der Steinzeit bis heute abzubilden. Seine pessimistische These: Nur Krieg, Seuchen, Chaos und Gewalt haben in der Geschichte der Menschheit zu mehr Gleichheit geführt. Er habe keine Gegenbeispiele finden können, führt Scheidel aus. Vom Ersten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre unter Margaret Thatcher in Großbritannien und Ronald Reagan in den USA sei die Ungleichheit am stärksten gesunken. Er nennt diese Phase die "Great Compression" - die große Kompression der Ungleichheit der Einkommen und Vermögen.

Dass die finanziellen Unterschiede in den Nachkriegsjahren abgenommen haben, ist laut Scheidel der "Erfolgsgeschichte des Wohlfahrtsstaates" geschuldet. Auch heute würden Staaten mit sozialpolitischen Maßnahmen versuchen, die Ungleichheit einzudämmen, aber das funktioniere nicht mehr gut genug.

Dass sich der moderne Wohlfahrtsstaat überhaupt entwickeln konnte, liege aber an zwei Weltkriegen und der Sogwirkung der russischen Revolution in westlichen Ländern. Alles von Gewalt geprägte Einschnitte in der Menschheitsgeschichte. Scheidel: "Die Steuern waren im Krieg sehr hoch und wurden nach dem Krieg nicht wieder zurückgenommen. Das Geld wurde dann statt für Krieg für Soziales, Gesundheit, Bildung oder Erziehung ausgegeben."

Ab den 1980er Jahren habe sich die Entwicklung jedoch umgekehrt: Die Ungleichheit stieg rasant. "Der Großteil des Anstiegs der Ungleichheit ist in den 30 Jahren vor der jüngsten Finanzkrise passiert. Mit ihr kam aber wieder das Interesse für die Thematik", so Scheidel. In der Krise wurde zwar vorübergehend viel Kapital und Vermögen der Reichen vernichtet, die Ungleichheit ist aber letztendlich fast überall gestiegen. "Wenn reiche Menschen etwas verlieren, haben sie immer noch viel. Der Zustand der Armen ist viel fragiler."

Steueroasen machen 10 Prozent der Weltwirtschaftsleistung aus

Auch die Thesen anderer Autoren - wie des französischen Ökonoms Thomas Piketty oder des serbisch-US-amerikanischen Ökonoms Branko Milanovic - wurden in den vergangenen Jahren oft aufgegriffen. Pikettys Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" wurde sogar zum weltweiten Bestseller. In der Analyse sind sich alle einig: Die steigende Ungleichheit wird zunehmend zu einem Problem für die gesamte Gesellschaft.

Neben dem IWF ließ auch die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die vergangenen Jahre in diversen Studien mit ähnlichen Erkenntnissen aufhorchen und vollzog einen leichten Schwenk. Einige der Papiere, mit denen man zunehmend mit den bisher vertretenen Politikempfehlungen bricht, kommen vom Österreicher Michael Förster.

"Als ich in die Organisation kam, wurden gerade die letzten Reste des Wohlfahrtsdenkens beiseitegelegt", erklärt der Wirtschaftsforscher, der seit den 1980er Jahren seine Expertise zu Einkommen, Ungleichheit und Armut in die OECD einbringt. Heutzutage haben Fragen der Umverteilung und Ungleichheit wieder einen hohen Stellenwert. Die Entwicklung sei in manchen Ländern dramatisch: Von 1975 bis 2007 gingen etwa fast 50 Prozent des gesamten Einkommenszuwachses der Vereinigten Staaten an das oberste Prozent im Land, wie die OECD berechnete.

Die größte Kluft gibt es jedoch nicht bei den Einkommen, sondern den Vermögen. Weil nicht bekannt ist, wie viel Geld in Steueroasen geparkt wird, wird die tatsächliche Ungleichheit noch deutlich stärker ausgeprägt sein als bisher vermutet. Umgerechnet zehn Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts sollen in Steueroasen gebunkert werden, schätzt der Ökonom Gabriel Zucman. Vor allem westlichen Industriestaaten entgehen dadurch Milliardenbeträge an Steuereinnahmen. Das verstärkt den Spardruck bei staatlichen Ausgaben, wovon tendenziell ärmere Haushalte und die Mittelschicht betroffen sind. Gleichzeitig werden Reiche durch diese Praktiken noch wohlhabender. Ein Teufelskreis also.

Ungleichheit zwischen den Staaten nimmt ab

Doch es gibt auch gegenteilige Entwicklungen: Die weltweite Ungleichheit zwischen den Staaten ist seit Jahren im Sinken begriffen. Vormals unterentwickelte Volkswirtschaften wie China oder Indien holen auf, das sorgt international für einen Angleich des Niveaus. Gleichzeitig explodiert die Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder. "In China hat sich die Ungleichheit verdoppelt, der Lebensstandard ist jedoch gestiegen. In den USA hat sich die Ungleichheit ebenfalls verdoppelt, aber der Lebensstandard für die meisten Menschen stagnierte", sagt Historiker Scheidel. Das sei ein gravierender Unterschied.

Im Jahr 1988 hatte ein Chinese, der - bezogen auf die städtische Bevölkerung Chinas - genau das Medianeinkommen verdiente, ein größeres Einkommen als 44 Prozent der Weltbevölkerung zur Verfügung. Das Medianeinkommen ist das Einkommen, bei dem es genauso viele Menschen mit einem höheren wie mit einem niedrigeren Einkommen gibt. Eine Person mit diesem Einkommen steht also in Bezug auf alle anderen Personen genau in der Mitte. Im Jahr 2013 ging es einem Chinesen, der mit dem Medianeinkommen entlohnt wurde, schon besser als 73 Prozent der Weltbevölkerung. "Der Mann oder die Frau hatte innerhalb eines Vierteljahrhunderts fast 30 Prozent der Weltbevölkerung oder 2,1 Milliarden Menschen hinter sich gelassen", rechnete Branko Milanovic im Monatsmagazin "Le Monde diplomatique" vor.

Forscher wie Piketty, Milanovic und OECD-Experte Förster sind nicht so pessimistisch wie Scheidel. Alle drei bleiben dabei, dass Ungleichheit durch politische Maßnahmen reduziert werden kann. Auch Wilfried Altzinger, Vorsitzender des Instituts für Ungleichheit an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), sieht das so: "Wenn man an die Apokalypse glaubt, kann man auf sie warten. Wenn man aber daran glaubt, dass die Geschichte von Menschen gemacht wird, dann wird es Zeit, dass man etwas bei der Ungleichheit macht." Der Wirtschaftsforscher erklärt: "Die eine Maßnahme gibt es nicht, dafür aber eine ganze Palette verschiedenster Möglichkeiten." Erbschaftssteuern, sozialer Wohnbau und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nennt er etwa.

Aller Gedankenspiele und theoretischer Überlegungen zum Trotz scheint die politische Realität aber ohnehin in eine andere Richtung zu gehen: In den USA wird die Abschaffung der Erbschaftssteuer diskutiert, in Frankreich wurden Teile der Reichensteuer abgeschafft, in Deutschland könnte der "Soli", ein Solidarbeitrag, der bisher Gutverdiener überproportional getroffen hat, fallen.