Dass sich der moderne Wohlfahrtsstaat überhaupt entwickeln konnte, liege aber an zwei Weltkriegen und der Sogwirkung der russischen Revolution in westlichen Ländern. Alles von Gewalt geprägte Einschnitte in der Menschheitsgeschichte. Scheidel: "Die Steuern waren im Krieg sehr hoch und wurden nach dem Krieg nicht wieder zurückgenommen. Das Geld wurde dann statt für Krieg für Soziales, Gesundheit, Bildung oder Erziehung ausgegeben."
Ab den 1980er Jahren habe sich die Entwicklung jedoch umgekehrt: Die Ungleichheit stieg rasant. "Der Großteil des Anstiegs der Ungleichheit ist in den 30 Jahren vor der jüngsten Finanzkrise passiert. Mit ihr kam aber wieder das Interesse für die Thematik", so Scheidel. In der Krise wurde zwar vorübergehend viel Kapital und Vermögen der Reichen vernichtet, die Ungleichheit ist aber letztendlich fast überall gestiegen. "Wenn reiche Menschen etwas verlieren, haben sie immer noch viel. Der Zustand der Armen ist viel fragiler."
Steueroasen machen 10 Prozent der Weltwirtschaftsleistung aus
Auch die Thesen anderer Autoren - wie des französischen Ökonoms Thomas Piketty oder des serbisch-US-amerikanischen Ökonoms Branko Milanovic - wurden in den vergangenen Jahren oft aufgegriffen. Pikettys Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" wurde sogar zum weltweiten Bestseller. In der Analyse sind sich alle einig: Die steigende Ungleichheit wird zunehmend zu einem Problem für die gesamte Gesellschaft.
Neben dem IWF ließ auch die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die vergangenen Jahre in diversen Studien mit ähnlichen Erkenntnissen aufhorchen und vollzog einen leichten Schwenk. Einige der Papiere, mit denen man zunehmend mit den bisher vertretenen Politikempfehlungen bricht, kommen vom Österreicher Michael Förster.
"Als ich in die Organisation kam, wurden gerade die letzten Reste des Wohlfahrtsdenkens beiseitegelegt", erklärt der Wirtschaftsforscher, der seit den 1980er Jahren seine Expertise zu Einkommen, Ungleichheit und Armut in die OECD einbringt. Heutzutage haben Fragen der Umverteilung und Ungleichheit wieder einen hohen Stellenwert. Die Entwicklung sei in manchen Ländern dramatisch: Von 1975 bis 2007 gingen etwa fast 50 Prozent des gesamten Einkommenszuwachses der Vereinigten Staaten an das oberste Prozent im Land, wie die OECD berechnete.
Die größte Kluft gibt es jedoch nicht bei den Einkommen, sondern den Vermögen. Weil nicht bekannt ist, wie viel Geld in Steueroasen geparkt wird, wird die tatsächliche Ungleichheit noch deutlich stärker ausgeprägt sein als bisher vermutet. Umgerechnet zehn Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts sollen in Steueroasen gebunkert werden, schätzt der Ökonom Gabriel Zucman. Vor allem westlichen Industriestaaten entgehen dadurch Milliardenbeträge an Steuereinnahmen. Das verstärkt den Spardruck bei staatlichen Ausgaben, wovon tendenziell ärmere Haushalte und die Mittelschicht betroffen sind. Gleichzeitig werden Reiche durch diese Praktiken noch wohlhabender. Ein Teufelskreis also.