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Der "Brexodus" der Banken

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Wirtschaft
In der Niederlassung von Goldman Sachs in London (r.) arbeiten rund 6000 Mitarbeiter - noch. Denn nach dem Austritt aus der EU sollen hunderte von ihnen nach Frankfurt abgezogen werden.
© reu/MacGregor

Der Brexit bedroht bis zu 10.000 Jobs in London. Im schlimmsten Fall sind sogar 75.000 Stellen betroffen.


London. Noch fließen die Gelder. Noch kommen die Kunden. Dieses Jahr wurden gleich zwei der markantesten Bürotürme in der City of London für jeweils mehr als eine Milliarde Pfund verkauft. Das "Walkie Talkie" in Fenchurch Street und der "Cheesegrater" in Leadenhall Street, Wahrzeichen des modernen London, sind für diese erklecklichen Summen erstanden worden - von Investoren aus Hongkong, fürs Themse-Geschäft.

"London bleibt attraktiv fürs globale Kapital", freut sich denn auch Neil Prime vom Immobilienriesen JLL. Gefeiert wurde unlängst auch die Eröffnung von Michael Bloombergs neuen Londoner Operationszentrale für Europa. Zwei gewaltige Gebäude, die der steinreiche Ex-Bürgermeister von New York für ebenfalls rund eine Milliarde Pfund nahe Mansion House im Herzen der City hat errichten lassen, geben ihm die Möglichkeit, seine gegenwärtige Londoner Mitarbeiterzahl von 4000 bei Bedarf zu verdoppeln.

Als klaren "Vertrauensbeweis" werten konservative Blätter in London die Investition des Amerikaners. Freilich hat Bloomberg bei der Eröffnung schon durchblicken lassen, dass er diese Investition wohl kaum getätigt hätte, hätte er den Ausstieg Großbritanniens aus der EU geahnt.

Der Brexit sei "das Dümmste" gewesen, das die Briten je getan hätten, meint Bloomberg unverblümt: "Es ist schwer zu verstehen, warum ein Land, in dem es bis dahin gut lief, sich plötzlich selbst ruinieren möchte." Das "Zentrum Europas", das London in Finanzgeschäften bis heute zweifelsfrei sei, werde es nach dem EU-Austritt jedenfalls "in dieser Weise nicht mehr" sein.

Noch deutlicher sagt es Lloyd Blankfein, der Boss von Goldman Sachs, der sich Sorgen macht über die weitere Ungewissheit bei Londons Austrittsverhandlungen mit der EU. Bei Besuchen in Paris und Frankfurt äußerte sich Brexit-Kritiker Blankfein in diesem Herbst schon lobend über "das tolle Wetter", "das gute Essen" und "die positive Energie" an der Seine und am Main. In der Tat hat Goldman Sachs in Frankfurt bereits acht Stockwerke eines modernen Hochhauses in Beschlag genommen, in denen bis zu 1000 Mitarbeiter untergebracht werden können. Teile ihres weitläufigen Büroareals in London, so hat die Bank signalisiert, plane sie hingegen zu vermieten - wann und sobald es eben nötig sei.

Für Ausweichstandorte in der EU ist vorgesorgt

In Angst vor einem Verlust ihrer EU-Lizenzen infolge eines "harten Brexit" haben sich die meisten in London operierenden Großbanken längst vorsorglich nach Standorten für einzelne Geschäftsbereiche in der EU umgesehen. Außer Goldman Sachs wollen auch die japanische Großbank Nomura und die Deutsche Bank in Frankfurt weiter expandieren. HSBC und JPMorgan halten Paris für die geeignete Basis. Bank of America Merrill Lynch schaut nach Dublin. Und Morgan Stanley und Citi haben gleichzeitig Dublin und Frankfurt im Visier.

Wie viel an Geschäften ausgelagert, wie viel Personal verschoben werden soll, das ist allerdings auch zum Jahreswechsel noch die große Frage. Die Bank von England, die englische Zentralbank, ging bis vor kurzem davon aus, dass "schon am Tag eins nach dem Brexit" - also am 1. April 2019 - "10.000 Jobs aus der City of London verschwunden sein könnten".

Ganz ohne Deal, also im "worst case scenario", könne der Brexit die britische Finanzwirtschaft langfristig sogar 75.000 Arbeitsplätze kosten, befürchtet die Zentralbank. Acht bis zehn Milliarden Pfund an jährlichen Steuereinnahmen stünden in diesem Fall auf dem Spiel.

Mittlerweile, da mit dem Brüsseler Dezember-Deal von Premierministerin Theresa May zumindest ein Weiterverhandeln gesichert wurde, hält man einen weniger katastrophalen Ausgang für möglich - wiewohl alle Banken auf "schnelle Entscheidungen" drängen, weil sie immer mehr unter Planungsdruck geraten. Eine aktuelle Umfrage der "Financial Times" unter den Managern von Großbanken in London lässt vermuten, dass auf den Brexit-Zeitpunkt hin höchstens 4600 Jobs - und nicht gleich 10.000 - dem britischen Austritt aus der Europäischen Union zum Opfer fallen werden.

Abgerückt von ihren ersten, für London äußerst finsteren Vorhersagen ist auch die Schweizer USB. Im Januar noch hatte Generaldirektor Sergio Ermotti die Befürchtung ausgesprochen, dass ein Fünftel der 5000 USB-Beschäftigten aus Großbritannien in die EU abziehen müsse. Inzwischen will Ermotti "so viele Leute wie möglich" in London halten. Dank "neuer Klarstellungen" durch London sei der Abzug von 1000 Stellen aus der City "immer unwahrscheinlicher" geworden.

Einzelne Bankenbosse, wie Rob Rooney von Morgan Stanley International, warnen aber davor, über dem Effekt der "Stunde eins" die drohenden Langzeitfolgen aus den Augen zu verlieren: "Wer die nicht sieht, der ist für die wirkliche Entwicklung blind." Nomura-Analysten pflichten dem bei: "Was für die Märkte am meisten Bedeutung hat, ist doch der Langzeitfaktor - und der liegt unserer Einschätzung nach immer noch bei einem Verlust von 35.000 bis 40.000 Stellen im Londoner Finanzgeschäft."