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Wirtschaftswachstum in Zeiten des Wahlkampfs

Von Anja Stegmaier

Wirtschaft

Trotz des anhaltenden Ausnahmezustandes und der politischen Spannungen wächst die Wirtschaft in der Türkei - fragt sich nur, wie nachhaltig.


Wien. Die türkische Militäraktion gegen die syrische Kurdenmiliz YPG hat nach den Worten des stellvertretenden Ministerpräsidenten Mehmet Simsek einen geringen Einfluss auf den Staatshaushalt und die Wirtschaft in der Türkei. "Unsere Investoren sollten gelassen bleiben. Die Folgen werden begrenzt sein, die Operation wird kurz sein, und sie wird die Terrorgefahr für die Türkei in Zukunft verringern", sagte Simsek am Montag in Ankara.

Tatsächlich konnten auch bisher die politischen Turbulenzen im Land der Wirtschaft relativ wenig anhaben. Nach dem Putschversuch 2016 und der anhaltenden Regierung per Dekrete liegt die wirtschaftliche Entwicklung der Drehscheibe in Nahost über den Erwartungen.

Laut Prognosen der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) wuchs die türkische Wirtschaft 2017 um mehr als sechs Prozent - im dritten Quartal stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um einen Wert von sage und schreibe 11,1 Prozent. Der Tourismus, der als wichtiger Wirtschaftszweig 3,7 Prozent des BIP und 2,3 Prozent der Beschäftigten in der Türkei ausmacht, musste nach dem Putschversuch und diversen Anschlägen mit Rückgängen um 30 Prozent fertig werden.

Auch wenn die Branche noch lange nicht Vorkrisenniveau erreicht hat, steht es um den Tourismus "erstaunlich okay", sagt der Wirtschaftsdelegierte der WKO in Istanbul, Georg Karabaczek. Auch aus Österreich kommen die Urlauber wieder zurück, mit einem Plus von 11 Prozent - insgesamt kommen aber vermehrt Gäste aus dem arabischen und asiatischen Raum.

Das Budgetdefizit der Türkei liegt für 2017 bei gerade einmal 1,1 Prozent. Von einer Staatsverschuldung von demnach knapp 30 Prozent des BIP können viele EU-Länder aktuell nur träumen. Die Türkei entspräche mit seinem öffentlichen Haushalt zwei wichtigen Maastricht-Kriterien, eine Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion wäre rein auf dieser Ebene also möglich.

Stimmen, die meinen, der Wirtschaftsboom der Türkei sei eine Fälschung, widerspricht Karabaczek. Die Regierung unter Staatsoberhaupt Recep Tayyip Erdogan befindet sich seit dem nur knapp gewonnenen Referendum im April 2017 allerdings im Dauerwahlkampfmodus.

Mit den ab 2019 in Kraft tretenden Verfassungsänderungen erhält der künftige Präsident der Türkei quasi Allmacht. Das nur haarscharf gewonnene Verfassungsreferendum hat Erdogan dementsprechend in Anspannung versetzt, er setzt nun alles daran, wieder Präsident zu werden - neben Ausbau der Medienmacht und Schwächung der Opposition sollen massive Staatsausgaben die Türken bei Laune halten.

Die neu geschaffene Mittelschicht unter Erdogan will ihren Wohlstand erhalten. Steuerminderungen, wie etwa die Senkung der Mehrwertsteuer, die den Konsum ankurbelt, und viele günstige Kredite sind laut Karabaczek für das Wachstum verantwortlich. Auch die Bauwirtschaft und Exporte, vor allem im Automotive-Sektor, tragen ihren Teil bei.

Trotz der guten Konjunktur und der staatlichen Förderprogramme ist die Arbeitslosigkeit relativ hoch - die Jugendarbeitslosigkeitsrate liegt obgleich gut ausgebildeter, arbeitswilliger Jugend bei 20 Prozent. Noch ist der "Braindrain" in der Wirtschaft nicht spürbar, wenn auch immer sichtbarer in der türkischen Gesellschaft.

Achillesferse der türkischen Wirtschaft bleibt die hohe Inflation, die mit zwölf Prozent wieder zweistellig ist. Auch das Leistungsbilanzdefizit ist mit 4,7 Prozent besorgniserregend. Seit Jahren importiert die Türkei wesentlich mehr, als sie exportiert - die EU-Staaten sind hier wichtigste Partner. Zum Ausgleich braucht es hier Direktinvestitionen - die kommen bisher zu 70 Prozent ebenfalls von Unternehmen aus der Europäischen Union.

Die ausländischen Investoren bleiben aber nicht ganz so gelassen wie gewünscht. Langfristiges Geld kommt schwer ins Land, niedergelassene Unternehmen tauchen zwar durch, der Vertrauensverlust betrifft vor allem neue Firmen aus der EU. Das Interesse an der Türkei sei hier gesunken. Die EU-Beitrittsgespräche seien ein Ziel ohne Alternative für die Türkei, sagt der Ökonom.