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Neue Quantensprünge

Von Lars Jaeger

Wirtschaft

Die zweite Generation von Quantentechnologien - vom lange unverstandenen Phänomen zur Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts.


Noch immer, nahezu 100 Jahre nach ihrer Entstehung, bietet die Quantenphysik unter Nichtphysikern - und zuweilen auch Physikern - reichlich Stoff für Verwirrung. Es erweist sich als praktisch unmöglich, sie mit unserem gesunden Menschenverstand nachzuvollziehen. Das Wesen von Quantenobjekten mit ihren Eigenschaften wie Welle-Teilchen-Dualismus, Superpositionen von verschiedenen Zuständen, beobachterabhängigen Messergebnissen, zeitlosem Zerfall von Wellenfunktionen und der geisterhaften Verschränkung räumlich getrennter Teilchen lässt sich nur schwer mit unseren bestehenden anschaulichen Vorstellungen und den philosophischen Begriffen unseres Denkens vereinbaren.

Die einflussreichste Theorie des 20. Jahrhunderts

Dabei ist die Quantenphysik längst konkreter Teil unseres Lebens. Ohne Zweifel ist die Quantentheorie die einflussreichste Theorie des 20. Jahrhunderts. Jede Elektronik, alle Digitaltechnologien, Laser, Mobiltelefon, Satelliten, Fernseher, Radio, und auch die moderne Chemie und medizinische Diagnostik beruhen auf ihr. Wir vertrauen tagtäglich ihren Gesetzen, wenn wir in ein Auto steigen (und uns auf die Bordelektronik verlassen), den Computer hochfahren (der aus integrierten Schaltkreisen, also einer auf Quantenphänomenen beruhenden Elektronik, besteht), Musik hören (CDs werden durch Laser, ein reines Quantenphänomen, ausgelesen), Röntgen- oder MRT-Aufnahmen machen oder via Handy (ebenfalls voll mit Mikroelektronik) kommunizieren. Und nicht zuletzt die Nukleartechnologie beruht auf ihr. So war einst die allererste technische Anwendung der neuen Quantentheorie zugleich die furchtbarste Waffe, die jemals militärisch eingesetzt wurde: die Atombombe.

Seit Beginn der 2000er Jahre zeichnet sich eine neue Quantenrevolution ab. Sie hat auch bereits einen Namen: "Quantum 2.0". Sie könnten das 21. Jahrhundert ähnlich prägen wie die Entwicklung digitaler Schaltkreise oder Laser das 20. Jahrhundert. Denn die Quantenphysik hat ihr technologisches Potenzial noch keineswegs ausgereizt. Im Gegenteil, bis heute werden wir immer wieder Zeugen von Überraschungen und Neuigkeiten auf ihrem Gebiet. Und in ebenso regelmäßigen Abständen erfahren wir von technologischen Neuerungen, die auf Quanteneffekten beruhen.

Beispiele sind die 1986 entdeckte Hochtemperatursupraleiter (Nobelpreis 1987), der ebenfalls in den 1980ern beziehungsweise 1990ern entdeckte Quanten-Hall-Effekt (Nobelpreis 1987 und 1998), LED-Licht (Nobelpreis 2014), die erst in den vergangenen Jahren entwickelte Technologie der Quantenkryptologie (Nobelpreis 2012) oder auch neue Wunderstoffe wie Graphen (Nobelpreis 2010), auf denen zukünftig eine noch viel leistungsfähigere Elektronik aufbauen könnte.

Alle bisherigen Quantentechnologien besitzen eine Gemeinsamkeit: Sie beruhen auf den Eigenschaften großer Ensembles von Quantenteilchen und den Möglichkeiten ihrer Kontrolle, nämlich der Steuerung des Flusses vieler Elektronen, der gezielten Anregung einer großen Anzahl von Photonen, der Messung des Kernspins massenhafter Atome. Beispiele sind der Tunneleffekt beim Transistor, die Kohärenz von Photonen beim Laser, die Spin-Eigenschafen der Atome bei der Magnetresonanztomographie, die Bose-Einstein-Kondensation oder die Quantensprünge in einer Atomuhr.

An die damit verbundenen bizarren Quanteneffekte wie Quantentunnel, den wie durch eine unsichtbare Hand gesteuerten Gleichtakt vieler Milliarden von Teilchen oder den Wellencharakter von Materie haben sich die Physiker längst gewöhnt. Denn das statistische Verhalten eines Ensembles von vielen Quantenteilchen lässt sich mit der seit nun 90 Jahre etablierten Quantentheorie (der berühmten Schrödinger-Gleichung) sehr gut erfassen, und die darin ablaufenden Prozesse sind noch einigermaßen anschaulich beschreibbar.

Die Verschränkung von Quanten rückt ins Zentrum

Bei der sich abzeichnenden zweiten Generation von Quantentechnologien steht dagegen etwas ganz Neues im Vordergrund: die gezielte Präparation, Kontrolle, Manipulation und nachfolgende Auslese der Zustände einzelner Quantenteilchen und ihre Wechselwirkungen miteinander. Hier rückt mit der Verschränkung genau jene Eigenschaft der Quantenwelt ins Zentrum, die die frühen Quantentheoretiker um Albert Einstein, Niels Bohr und Co. so sehr verwirrte und deren fundamentale Bedeutung die Physiker erst viele Jahre nach der ersten Formulierung der Quantentheorie vollständig erkannten.

Sie beschreibt, wie sich eine beschränkte Anzahl von Quantenteilchen in einem Zustand befinden kann, in dem diese sich so verhalten, als wären sie durch Geisterhand aneinandergekoppelt, auch wenn sie räumlich weit voneinander entfernt sind. Jedes Teilchen "weiß" dann sozusagen, was die anderen gerade treiben. Sie gehören allesamt einer gemeinsamen physikalischen Entität (die Physiker sagen: einer einzigen Wellenfunktion) an. Zwischen den Teilchen besteht dann eine Korrelation, die eine instantane (also ohne jegliche Zeitverzögerung) Vorhersage darüber erlaubt, welcher Zustand für ein Teilchen realisiert ist, wenn man gerade ein anderes gemessen hat, auch dann, wenn viele Kilometer zwischen ihnen liegen. Es sollte fast 50 Jahre dauern, bis die Physiker dieses merkwürdige Phänomen der Quantenwelt so richtig verstanden hatten, und noch heute kommt es vielen von ihnen wie Magie vor. Nicht weniger magisch erscheinen die mit ihm möglich werdenden Technologien.

Die Umsetzung von Richard Feynmans Vision

Neue auf Verschränkung beruhende Quantentechnologien könnten uns zuletzt aber auch den Weg zur Umsetzung einer von niemand Geringerem als Richard Feynman 1981 ausgesprochenen technologischen Vision eröffnen: des Quantencomputers. Dieser vermag auf zahlreichen Quantenzuständen, sogenannten Quantenbits (Qubits), parallel zu rechnen, anstatt wie klassische Computer Information Bit für Bit zu verarbeiten. Mit seiner Hilfe ließen sich Probleme lösen, die für die heute in Physik, Biologie, Wetterforschung und anderswo eingesetzten Supercomputer noch bei weitem zu komplex sind. Quantencomputer würden Letztere aussehen lassen wie Commodore 64 aus den frühen 1980er Jahren.

Mit einem solchen Ensemble von verschränkten Qubits können die Physiker, so erhoffen sie sich, auf allen möglichen seiner Zustände simultan operieren. Während ein normaler Computer all die Bits, die er hintereinander in vielen, vielen Schritten bearbeitet, also von jeweils 0 auf 1 beziehungsweise von 1 auf 0 umlegen muss, kann ein Quantencomputer alle diese Schritte auf einmal verarbeiten. Diese hochgradige Parallelisierung der Operationen erhöht die Rechenleistung des Computers exponenziell mit der Anzahl der Qubits, im Gegensatz zu einem klassischen, sequenziell arbeitenden Computer, dessen Rechenleistung nur linear mit der Anzahl der verfügbaren Rechenbausteine ansteigt.

So sind in den vergangenen Jahren weltweit zahlreiche Forschungszentren für neue Quantentechnologien entstanden, und zahlreiche staatliche Förderprojekte wurden ausgerufen mit Zuwendungen in Milliardenhöhe. Beispiele sind das kanadische Institute for Quantum Computing mit einer Anlauffinanzierung von rund 300 Millionen Dollar, das Centre for Quantum Technologies in Singapur, das Joint Quantum Institute in den USA, das Engineering and Physical Sciences Research Council in Großbritannien und das QuTech in den Niederlanden.

Auch andere Europäer sind aktiv geworden: Im Jahr 2016 unterzeichneten 3400 Wissenschafter das "Quantum Manifesto", einen Aufruf zur Förderung der Koordination zwischen Hochschulen und Industrie bei der Erforschung und Entwicklung neuer Quantentechnologien in Europa. Diesen Ansatz hat schließlich auch die Politik aufgegriffen: So beschloss die EU-Kommission, ein Flagship-Projekt für die Forschung an Quantentechnologien in den kommenden zehn Jahren mit einer Milliarde Euro zu fördern. Das ist eine Menge Geld für die chronisch schwachen Haushalte der europäischen Länder.

Hadern die meisten von uns noch mit den erkenntnistheoretischen und philosophischen Implikationen der Quantenphysik, so haben Regierung und Unternehmen längst verstanden: Quantentechnologien 2.0 sind Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts. Das Verständnis des bizarren und lange unverstanden gebliebenen Phänomens der Verschränkung eröffnet uns zuletzt also einen Blick in eine scheinbar weit entfernte technologische Zukunft, die uns mit Sicherheit aber schon bald bevorsteht.