Zum Hauptinhalt springen

Indiens Köpfler in die Digitalisierung

Von Eva Stanzl

Wissen
Reges Treiben im Zentrum von New Delhi.
© Eva Stanzl

Indien sieht sich als neue Wirtschaftssupermacht, doch für viele Menschen bleibt die Lebensqualität hinter den Wachstumsraten.


Karikaturisten prägen das Bewusstsein von Nationen. R. K. Laxman, der fast 50 Jahre lang die "Times of India" illustriert hat, galt sogar als Gewissen seines Landes. In einer Zeichnung sitzen ein paar Bettler auf einem schmuddeligen Gehsteigrand. Einer liest eine Zeitung mit dem Titel "Die Wirtschaft" und ruft aus: "Großartig! Wir haben enorme Fortschritte gemacht bei Wachstum, Industrie und Exporten! Alles besser als unser elendiges Dasein von früher!"

Laxmans Karikatur findet sich in einem Buch von Arun Maira aus 2004, könnte jedoch aktueller nicht sein, betont der Elder Statesman Indiens diese Woche in der Wirtschaftszeitung "The Mint": Nichts hat sich geändert - hohe Wachstumsraten, bittere Armut: "Wir leben in einem der ungleichsten Länder der Welt."

Auf der einen Seite sieht Indien sich selbst als neue Wirtschafts-Supermacht und ist auch auf dem Weg dorthin. Märkte und Exportwirtschaft brummen, tausende Menschen ziehen vom Land in die Stadt, um zu arbeiten. Die Bauwirtschaft boomt, 300 Millionen der 1,3 Milliarden Einwohner telefonieren bereits mit Smartphones, das Glasfasernetz wird ausgebaut. Selbst wer um zwei Uhr Früh am Flughafen von Delhi ins Taxi steigt, kann sich der Euphorie des Landes schwer entziehen. Denn der Lenker ist ein Mann, der noch vor 100 Jahren überhaupt keine Chance gehabt hätte, seiner Kaste zu entfliehen und dem Schicksal der Unberührbaren zu entgehen. Heute ist er ein Unternehmer, der seinen Wagen steuert. Und er ist ein Beispiel dafür, dass sich der Subkontinent entgegen vielen Prognosen in Richtung Modernität entwickelt.

Optimismus, das Glas alshalb voll zu sehen

Indien hat das beherzigt, was einer seiner größten Denker, Swami Vivekananda, so formulierte: Die Europäer sagen gerne, wir gehen von größeren zu kleineren Fehlern. Ich sage euch: Wir gehen von kleineren Wahrheiten zu größeren Wahrheiten. Dieser Optimismus, das Glas als halb voll zu sehen, macht den Subkontinent im Wesentlichen aus. Hunderte Millionen Menschen sehen die Chance, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, indem sie durch Unternehmergeist und Improvisationsvermögen die sich ihnen durch den Wirtschaftsboom bietenden Möglichkeiten nutzen.

Das Wirtschaftswachstum lag 2017 bei 7,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die Treiber waren Raffinerieprodukte, Stahl, Zement, Generika und Informationstechnologien (IT). Im Jänner verankerte Premier Narendra Modi bei den Wirtschaftsgesprächen in Davos ein globales Indien, das auf den Säulen Reform, technischer Fortschritt, Infrastruktur, Inklusion und reibungslosen Geschäftsabläufen ruhe. Unterstützend wirken eine Tradition in den Dienstleistungen und die englische Sprache. Bereits jetzt lebt ein Drittel der Einwohner in Städten. 2030 sollen es 600 Millionen sein. Zum Vergleich: Die Europäische Union zählt 511 Millionen Menschen. In zwölf Jahren sollen Metropolen wie die Hauptstadt New Delhi (25 Millionen Einwohner) Mumbai oder Bangalore zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften.

Damit die Städte angesichts des enormen Zuzugs nicht im Chaos versinken, hat das Land eine mit 28,09 Milliarden Euro ausgestattete Initiative zur Etablierung von 100 Smart Cities gestartet, wobei man sich auf Abfallwirtschaft, Mobilität und E-Government konzentriert. Die Ausgangslage ist jedoch völlig anders als in Österreich.

Von elektronisch verschalteten Ampeln, die die Verkehrsflüsse je nach Tageszeit regeln, ist nicht die Rede. "In Indien ist bereits ein Fahrradweg Teil einer Smart City", sagte der Handelsdelegierte der Wirtschaftskammer in New Delhi, Oskar Andesner, bei einer Studienreise des Forschungsrats, die die "Wiener Zeitung" auf Einladung des Austrian Institute of Technology (AIT) vergangene Woche besuchte. Notwendig ist die Initiative aber alle Mal, denn der Verkehrskollaps in den Städten lässt kaum Luft zum Atmen. In der Hauptstadt sieht man an Smog-Tagen morgens kaum die Hand vor den Augen - Katalysatoren sind alt, Entrußer fehlen. Verkehrsregeln werden kaum beachtet. Gefahren wird, wo Platz ist, Zusammenstöße werden durch Blickkontakt vermieden. Das alles hat zur Folge, dass es mindestens eine Stunde dauert, um 25 Kilometer mit dem Auto zu fahren.

Enorme Luftverschmutzung zwingt zu Elektroautos

Angesichts der enormen Luftverschmutzung treibt die Regierung die Energiewende voran. Obwohl fast ein Viertel der Bevölkerung immer noch ohne Strom lebt, hat Modi angekündigt, den Verkehr bis 2030 komplett auf Elektroantrieb umzustellen. Shashi Singh, der Chef der indischen Niederlassung des steirischen Antriebsentwicklers AVL, bezeichnet diese Vision zwar als "Traum" - doch selbst wenn nur die Hälfte erreicht werde, wäre das ein großer Fortschritt. Dass Modi seine Ankündigungen ernst meint, zeigt der im Vorjahr gefällte Beschluss, bei der Abgasnorm mit 2020 direkt von Euro 4 zu Euro 6 zu gehen. Und zwar für alle Fahrzeuge, selbst Motorräder, die für viele Familien die einzige Form des Individualtransports sind. Ohne zündende Ideen bleibt indes die Versorgung mit Trinkwasser, das nirgends aus dem Hahn sprudelt. "Wasserleitungen zu erneuern stellt uns vor Probleme, da wir in vielen Fällen nicht wissen, wo sie liegen", räumte die Präsidentin der Indischen Industriellenvereinigung, Shobana Kamineni, bei einer Round-Table-Diskussion in Delhi ein.

"Jugaad" ist ein umgangssprachlicher Begriff in Hindi für eine simple Idee, die Vorhandenes verbessert. Sie führt in den Süden des Landes in die Technologie-Metropole Bangalore und dort in den Verband der IT-Unternehmen, Nasscom. Im Raum steht eine Baby-Krippe, die über Fernbedienung gesteuert werden kann: schaukeln oder nicht, sanft oder schnell. "Mein Mann und ich sind beide selbständig und müssen trotz unserer kleinen Tochter arbeiten. Deswegen haben wir die automatische Krippe erfunden", sagt Radhika Patil, Gründerin des Start-ups "Cradlewise".

Im Ranking der besten globalen Start-up-Ökosysteme steht Bangalore auf Platz 20 und gilt nach Berlin als schnellstwachsender Start-up-Standort. Mit einem Durchschnittsalter von 29 Jahren hat es die jüngsten Unternehmer (Silicon Valley: 36 Jahre). Mit dem Programm "10.000 Start-ups" unterstützt Nasscom innovative Gründer für jeweils ein Jahr, um diese Zahl bis 2023 zu erreichen. Bangalore ist das wichtigste IT-Zentrum Indiens, sieht sich als "Silicon Valley Asiens" und gilt als Zentrum der Luft- und Raumfahrtindustrie. Der Forschungsrat des Staates Karnataka verweist auf 400 Forschungszentren in der Stadt mit mehr als 320.000 Wissenschaftern und Entwicklern.

Doch auch, wenn der Boom allgegenwärtig ist, beschränken sich seine Brennpunkte auf einige wenige Zentren, in denen das neue Indien das alte Indien in atemberaubendem Tempo überholt. Modi muss die Herkulesaufgabe bewältigen, die Entwicklungen in Balance zu halten und den Spagat zwischen den Wirtschafts- und Technologiezentren und den ländlichen Regionen schaffen.

Technologien als Strohhalm, der Land am Laufen hält

Während die oberen Zehntausend alles haben und eine wachsende Mittelschicht Neubauten bezieht, sind 77 Prozent der Arbeiter in prekären Verhältnissen tätig. Nur 15 Prozent der unselbständig Beschäftigten sind fix angestellt, der Rest arbeitet für Leihfirmen oder gegen Taglohn. In Spitälern auf dem Land müssen sich Erkrankte die Betten teilen, es fehlen Bildungseinrichtungen. Unter Bauern steigt die Selbstmordrate, weil sie nicht über die Runden kommen. Obwohl es längst verboten ist, werden vereinzelt immer noch Witwen nach einem grausamen Ritual verbrannt. In Indien liegen Siliziumzeitalter und Spätantike nur 50 bis 80 Kilometer voneinander entfernt.

Das Land spricht 50 Sprachen, wobei sich mehr Menschen in Tamil verständigen als der gesamte deutschsprachige Raum Einwohner hat. Die Dimensionen sind gigantisch - auch in religiöser Hinsicht. 80 Prozent der Bevölkerung gehören dem Hinduismus und 13,4 Prozent dem Islam an, der Rest sind Christen, Sikh, Buddhisten. Mit seiner "Hindu First"-Politik schürt Modi gewaltiges Konfliktpotenzial. So gesehen sind die Segnungen der IT ein Strohhalm, an dem sich die Politik festhalten kann, um das Land am Laufen zu halten.

In Indien wurden das Schachspiel und die Null erfunden, nahm die Mathematik ihren Ausgang und bildete der erste Herrscher, König Ashoka, 286 bis 232 vor Christus eine Staatsform, die auf Frieden beruhte. Vielleicht gerade weil das Land, anders als Kolonialmächte wie China, England oder Spanien, keinen hegemonialen Machtanspruch hegt, sondern eher auf sich selbst bezogen ist, funktioniert es auf fast magische Weise als größte Demokratie der Welt. Wie es sich im Inneren organisiert, bleibt dem fremden Reisenden aber wohl verborgen.