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"Wir alle werden zu Getriebenen"

Von Michael Schmölzer

Wirtschaft

Die Digitalisierung kommt mit rasender Geschwindigkeit, und sie trifft uns mit voller Wucht, sagt der Schweizer Ökonom Binswanger.


"Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen", lautete das Thema eines hochkarätig besetzten Symposions im niederösterreichischen Dürnstein. Es ging um Arbeit, ihre Notwendigkeit, ihre Zukunft. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem Schweizer Ökonomen Mathias Binswanger über die Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt und Gesellschaft gesprochen. Sein Befund ist verstörend.

"Wiener Zeitung": Viele Wissenschafter gehen davon aus, dass uns durch die Digitalisierung die Arbeit abhandenkommt. Die Arbeitslosigkeit, heißt es, wird sprunghaft ansteigen. Sie haben dazu eine andere Meinung?

Mathias Binswanger: Man weiß nicht wirklich, wie diese Entwicklung verlaufen wird, verschiedene Studien kommen da zu verschiedenen Ergebnissen. Wenn wir davon ausgehen, dass es in Zukunft 25 bis 30 Prozent Arbeitslosigkeit gäbe, würde der Wirtschaft die Nachfrage fehlen. Wenn die Nachfrage fehlt, dann hören auch die Investitionen in diese neuen Technologien auf. Die lohnen sich nur, wenn man nachher auch etwas verkaufen kann. 30 Prozent Arbeitslosigkeit käme der Zeit der großen Depression in den USA gleich. Da investiert niemand mehr. Aber: In der Produktion fallen die Jobs weg. Die Fabrikshallen, die Produktionshallen werden weitgehend menschenleer sein. Die neuen Systeme sind selbstlernend. Das heißt, die Jobs im Büro fallen weitgehend weg. Und im Transport. Da sind wesentliche Teile der Wirtschaft betroffen.

Wo werden denn neue Jobs geschaffen?

Durch Digitalisierung wird die Wirtschaft immer komplexer, man schafft neue Probleme. Dadurch entstehen neue Jobs. Das ist schon heute so in der Schweiz. Neue Jobs werden im Bereich Gesundheitswesen, Unterricht und Bildung geschaffen. Bereiche, wo nicht direkt produziert wird. Man muss die Menschen für die neuen Herausforderungen ausbilden. Es handelt sich im Gesundheitsbereich nicht um zusätzliche Ärzte oder Krankenschwestern, sondern Leute in der Verwaltung, Manager. Das schafft in erheblicher Zahl neue Jobs, das kann man in der Schweiz schon jetzt sehen.

Welche Berufe werden entstehen?

Human-Machine Interaction Management wäre so ein Beispiel. Das wird sich durchsetzen. Man kann Menschen nicht mehr getrennt von den Robotern und Algorithmen managen. Ein neues Berufsfeld ist auch Machine-Ethics. Man muss sich fragen, wie sich Roboter ethisch verhalten.

Im unqualifizierten Bereich bleiben die Jobs aber bestehen, sagen Sie. Warum ist das eigentlich so?

Zwei Dinge sind durch Digitalisierung schwierig zu ersetzen: ganz kreative Tätigkeiten und Tätigkeiten etwa eines Friseurs oder Gartenarbeit. Einzelne Funktionen des Gärtners kann man natürlich schon auf Roboter auslagern. Aber dass man alle Tätigkeiten an einen Roboter delegiert, das ist ziemlich schwierig.

Man kann sich auch fragen, rentiert sich das überhaupt?

Je wertvoller Arbeit wird, desto eher versucht man, sie zu ersetzen oder wegzurationalisieren. Denn wertvoll heißt hohe Löhne und damit hohe Kosten.

Viele sehen in der Digitalisierung auch eine ungeheure Chance: Arbeit fällt weg, der Mensch bekommt ein bedingungsloses Grundeinkommen und kann sein Leben abseits von Arbeit gestalten, wie er will. Das halten Sie nicht für realistisch?

Das ist nicht realistisch. Das wäre die Betrachtung der Wirtschaft als Kuchen, den man so oder so verteilen kann. Man gibt den Arbeitern ein bisschen mehr und anderen ein bisschen weniger. Aber die Wirtschaft ist kein Kuchen. Wenn man da herumschraubt und verändert, dann setzen wir eine Dynamik in Gang, die Gesamtheit verändert sich. Wir haben dann nicht mehr denselben Kuchen. Man muss in makroökonomischen Zusammenhängen denken.

Sie sagen, die Arbeit verschwindet nicht, aber der Mensch verschwindet . . .

. . . er verschwindet aus der Produktion . . .

...aber Sie gehen noch weiter: Sie sagen, die Wirtschaft löst sich vom Menschen, unser Konsumverhalten wird zunehmend von außen gesteuert, wir werden in eine passive Rolle gedrängt. Wenn man Demokratie für wünschenswert hält und davon ausgeht, dass der Mensch mündig sein soll, ist das doch eine Horrorvorstellung. Glauben Sie, dass das eine zwangsläufige Entwicklung durch den technischen Fortschritt selbst ist? Wer steuert das?

Das ist eine Co-Evolution. Es handelt sich um ein System, das eine Logik hat, die ursprünglich von Menschen gemacht wird. Aber das entwickelt eine gewisse Eigendynamik. Irgendwann wird der Mensch zum Getriebenen. Das merkt man daran, dass wir heute sagen, wir brauchen weiterhin Wirtschaftswachstum. Aber niemand begründet dieses Wirtschaftswachstum damit, dass wir dann mehr materiellen Wohlstand haben. Man begründet es damit, dass man sonst im Vergleich zu anderen Ländern zurückfallen würde. Dann wäre man als Investitionsstandort nicht mehr so attraktiv. Wenn wir kein Wachstum haben, dann gehen Arbeitsplätze verloren. Aber es geht gar nicht mehr darum, was man mit diesem Wachstum erreichen will. Geht es uns dann besser? Das ist in den Hintergrund getreten. Das, was ursprünglich ein Mittel war, ist zum Selbstzweck geworden. Damit hat dieses System eine Dynamik entwickelt, die sich verselbstständigt hat. Wir müssen jetzt wachsen, egal, ob wir wollen oder nicht. Und der Konsumprozess verselbständigt sich vom Menschen. Algorithmen entscheiden für mich und konsumieren für mich. Und am Schluss weiß ich gar nicht mehr, wofür ich was bezahlt habe und was ich da konsumiere. Das heißt, das System emanzipiert sich vom Willen der einzelnen Menschen.

Wenn die Prozesse unabhängig vom Menschen ablaufen, der Mensch entmündigt wird: Wer gewinnt dann an Macht?

Das ist ja das Erstaunliche: Niemand fühlt sich am Schluss mächtiger. Selbst die, die managen, die an den oberen Stellen sind, haben das Gefühl, sie seien durch das System getrieben. Alle sind am Schluss Getriebene. Man sieht nicht mehr, wer da dahinter steckt.

Aber Macht kann sich doch nicht in nichts auflösen. Wir sagen: Die Macht geht vom Volk aus. Wenn die Macht dem Volk entzogen wird, muss sie irgendwohin wandern.

Uns wird suggeriert, dass Digitalisierung hilft, unsere Bedürfnisse noch besser zu befriedigen - etwa durch den Einsatz von Algorithmen. Die treffen die besseren Konsumentscheidungen, sorgen noch besser für meine Gesundheit. Garantieren, dass ich ein noch besseres Leben führe. Sie erleichtern mir mühsame Kaufprozesse dadurch, dass die Sachen direkt zu mir in die Wohnung kommen. Das präsentiert sich so, dass es uns das Leben leichter macht und wir noch mündiger würden. Stattdessen werden wir schleichend abhängig von diesem System. Das Unheimliche ist, dass wir am Ende gar nicht mehr wissen, ob hinter gewissen Dingen überhaupt noch ein Mensch steht. Oder ist das ein Algorithmus, der selbstlernend ist? Das Ganze folgt der Logik der Wirtschaft, weil man damit Geld verdienen will. Nichts findet im interessenfreien Raum statt.

Wie sehen Sie eigentlich Ihre Funktion? Wollen Sie rein Fakten präsentieren oder sehen Sie sich als Warner?

Ich sehe mich schon auch als Warner. Weil wir sehr schnell in ein System hineingeraten - und das war lange Zeit nicht absehbar. Das hat in den letzten paar Jahren eine ungeheure Beschleunigung erlebt. Es kommt in rasantem Tempo auf uns zu, und wir sind darauf nicht vorbereitet. Wir sind unheimlich schnell bereit, für etwas Bequemlichkeit ganz viel zu opfern. Wir lassen uns überwachen, liefern ganz viele Daten, wenn wir dafür eine bessere App bekommen. Das funktioniert. Wenn man nicht mitmacht, wird man an den Rand gedrängt. Dann funktionieren bestimmte Dienste plötzlich nicht mehr, also muss ich da zustimmen.

Sehen Sie irgendwo das Potenzial, dass die Entwicklung, wie Sie sie sehen, doch nicht so eintritt?

Alle Trends erzeugen ihre Gegentrends. Natürlich werden die Gefahren verstärkt wahrgenommen. Die Frage lautet, inwieweit man noch in der Lage ist, das zu ändern. Das Ganze kommt mit einer unglaublichen Wucht daher. Das Erschreckende, wenn man den Technologie-Propheten zuhört, ist, dass es denen nicht mehr um den Menschen geht. Die wollen eine Intelligenz schaffen, die besser ist, als die menschliche. Wenn der Mensch dann nicht mehr gebraucht wird, macht das nichts.

Aber welcher Akteur könnte korrigierend eingreifen?

Die interessierte Öffentlichkeit, die Wissenschaft, die Wirtschaft.

Ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie die Politik umschiffen wollen. Die wäre doch eignetlich die berufene Instanz?

Das Parlament ist schon jetzt überfordert und zum Thema Digitalisierung noch überforderter. Die reagieren nur, die Impulse müssen von anderswo kommen.

Aber wer setzt die Impulse?

Wir reagieren auf das, was uns das Silicon Valley vorsetzt. Das hat schon religiöse Bedeutung erlangt. Man macht Wallfahren ins Silicon Valley und sieht sich an, was dort gemacht wird.

Zur Person

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten, Privatdozent an der Universität St. Gallen und Publizist.