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"Agrarindustrie ist zerstörerisch"

Von Anja Stegmaier

Wirtschaft

Gibt es Alternativen zum Kapitalismus? Filmemacher Kurt Langbein und Fairtrade-Chef Hartwig Kirner im Interview.


"Wiener Zeitung": Herr Langbein, in Ihrem Dokumentarfilm "Zeit für Utopien", der am 19. April in die Kinos kommt, stellen Sie alternative Wirtschaftsmodelle vor. Genossenschaften und Kooperationen sind aber keine neuen Ideen . . .

Kurt Langbein: Ich habe über die negativen Auswirkungen unseres Wirtschaftssystems viele Diskussionen geführt. Am Ende ging es immer darum: Gibt es wirklich eine Alternative zum Kapitalismus? Können wir bäuerliche Landwirtschaft erhalten? Können wir vernünftig produzieren, ohne die Umwelt zu zerstören und ohne die Menschen im globalen Süden auszubeuten? Den diversen und auch alten Initiativen - von der Commons-Bewegung über Tauschkreise, solidarische Landwirtschaft und Genossenschaften - fehlt ein gemeinsames Zukunftsbild, das wir brauchen, um die Angst zu verlieren, dass wenn wir ökologisch vernünftig handeln, verzichten müssen.

Im Film kommen Kleinbauern in Bayern zu Wort, die quasi vorindustriell arbeiten. Aber auch Fabrikarbeiter in China oder Minenarbeiter in Afrika. Letztere wollen Wachstum, Wohlstand, ein besseres Leben. Ist das nicht der kapitalistische Kreislauf?

Hartwig Kirner: Ja, mit Fairtrade bewegen wir uns im Rahmen der Marktwirtschaft. Wir als Organisation wollen kein neues System - wir wollen das System ändern. Ich sehe noch keine Wirtschaftsmodelle, die das aktuelle ablösen könnten. Solange wir keine neuen großen Lösungen haben, müssen wir das bestehende Wirtschaftsmodell menschlicher und gerechter machen.

Langbein: Bei der Lebensmittelversorgung brauchen wir eine Abkehr von der Globalisierung in ihrer derzeit sehr hässlichen Form und einen neuen Regionalismus. Die Agrarindustrie und die Lebensmittelindustrie sind einen zerstörerischen Weg gegangen, der unsere Lebensmittel denaturiert und dazu geführt hat, dass mehr als die Hälfte von dem, was wir heute in den Supermärkten kaufen, nicht bei uns wächst, sondern in den Ländern, die ohnehin zu wenig zum Essen haben.

Kann das für die breite Masse funktionieren?

Langbein: Hansalim in Südkorea zeigt, dass es möglich ist. Die Kooperative versorgt 1,5 Millionen Menschen mit regionaler, biologischer Nahrung. Die Logistik ist ausgeklügelt und die Entscheidungsformen funktionieren. Die Bauern und Konsumenten einigen sich gemeinsam auf einen fairen Preis. Die Produzenten sagen, was sie brauchen, um die Lebensmittel herzustellen und ordentlich leben zu können. Und die Konsumenten erfüllen diesen Wunsch, soweit möglich. Im Gegensatz zum Weltmarkt, wo die Lebensmittelpreise hauptsächlich durch Spekulation geformt werden.

Sie stellen ein Schweizer Wohnprojekt vor, das zeigt, dass man mit viel weniger Energieverbrauch gut leben kann. Die Familie hinterfragt sogar ihre Fahrten mit dem Zug - ist das nicht radikaler Verzicht?

Langbein: Wenn ich einmal nach New York und zurück fliege, habe ich mein Jahreskontingent an Energie aufgebraucht. Wir müssen unsere selbstverständliche Mobilität hinterfragen. Das gilt auch für die Automobilität. Die ökologische Zukunft liegt nicht im Elektroauto. Wir halten damit nur die Fiktion des Autos als zentrales Fortbewegungsmittel aufrecht. Dass das in relativ kurzer Zeit in großem Volumen geht, zeigt Wien. Ein attraktiver öffentlicher Massenverkehr führt dazu, dass die Automobilität abnimmt - das hätten wir vor 20 Jahren für unmöglich gehalten.

Ein Ökonom im Film fordert eine Deindustrialisierung. Kein Wachstum ist doch auch keine Lösung . . .

Kirner: Wenn genossenschaftliche Bewegungen größer werden, ist das gesundes Wachstum. Es darf nicht um die Vermehrung der Güter per se gehen. Wir haben einen enormen Zuwachs an Energieeffizienz, nur um die Wareneinheit zu verdoppeln. Wir verbrauchen pro Wareneinheit heute die Hälfte der Energie - stellen aber doppelt so viel her. Das zeigt den Widersinn dieser auf Produktionswachstum ausgerichteten Wirtschaft. Das Wachstum von qualitativ hochwertigen Produkten ist wünschenswert - das führt dann auch zu einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts.

Sie propagieren regionalen, saisonalen Konsum - Fairtrade-Produkte sind aber meist vom anderen
Ende der Welt, ein Widerspruch?

Kirner: Nein, denn wir reden hier von Lebensmitteln, die schlicht nicht in Österreich hergestellt werden. Kakao wird nie in Österreich wachsen, der kommt nun mal aus Westafrika oder Lateinamerika. Wenn wir diese Produkte konsumieren, sollten wir darauf schauen, dass sich die Bedingungen für die Produzenten vor Ort verbessern.

Beim Fairphone, ein Smartphone, dass auf Fairness und Nachhaltigkeit setzt, sind nur einige Teile fair(er) hergestellt. Mischprodukte mit dem Label "fair" stehen in der Kritik - ist das Blendung?

Kirner: Das sind Schritte in die richtige Richtung. Man kann nicht erwarten, dass in einem Land wie der Elfenbeinküste, wo die Lebensbedingungen sehr prekär sind, plötzlich paradiesische Zustände herrschen, wenn wir hier investieren. Man darf nicht immer sofort das Maximale erwarten und damit jede Initiative abwürgen.

Langbein: Es geht um den Prozess der Verbesserung und nicht um einen absoluten Fairnessbegriff, der uns zufrieden macht. Fairphone hat nicht das Ziel, dass wir mit reinem Gewissen jedes Jahr ein neues Handy kaufen können. Das Unternehmen könnte Kobalt aus einer sauberen Mine kaufen, geht aber bewusst in Regionen, wo Konflikte und Bürgerkrieg herrschen und die Leute mit ihren Händen das Kobalt aus dem Boden gewinnen, um dort fairere Bedingungen zu schaffen.

Ist das nicht doch ein Luxusthema? Nicht nur wegen den höheren Preisen, es braucht eine Wahlfreiheit, um auszusteigen, oder?

Langbein: Die Protagonistin im Film, die auf einem Ziegenhof arbeitet, ist keine Aussteigerin, sondern eine Einsteigerin in eine neue Gesellschaft. Wir können uns den Luxus nicht mehr leisten, jedes Jahr noch weniger für Lebensmittel auszugeben und damit dazu beizutragen, dass die Lebensmittel immer denaturierter sind und immer perversere Formen der Lebensmittelproduktion Platz greifen. Wir haben vor 30 Jahren 30 Prozent unseres Einkommens für Nahrungsmittel ausgegeben, heute sind es acht Prozent. Für eine vernünftige Form des Essens und für eine vernünftige Form der Nahrungsmittelproduktion braucht es einen gewissen Preis.

Kirner: Wir sind durch die Werbung über Jahrzehnte erzogen worden, "Geiz ist geil", "Sei nicht blöd, kauf nicht teuer ein". Beim Kaffee gibt es Kapselsysteme, da kostet das Kilo 90 Euro - im Supermarkt kostet das Kilo zehn Euro. Die Leute sind bereit, mehr auszugeben. Wir müssen es aber schaffen von dieser Billig-Mentalität wegzukommen.

Kann der Einzelne tatsächlich etwas bewirken?

Kirner: Wenn ich zur Wahl gehe, könnte ich auch die Frage stellen. Meine Stimme allein kann nichts ausrichten, aber wenn es viele Menschen machen schon. Im Kapitalismus ist meine Wählerstimme meine Brieftasche. Wenn Menschen sich im Supermarkt dafür entscheiden ökologisch, ethisch vertretbare Produkte zu kaufen, geben sie eine Stimme ab.

Langbein: Die Rahmenbedingungen müssen sich auch ändern und die Wachstumslogik hinterfragt werden. Letztlich funktioniert Kapitalismus nur mit Wachstum - jedenfalls so, wie er jetzt funktioniert. Das sollte uns dazu bewegen, die Ökonomen und die Politik zu aufzufordern, Übergangsmodelle jenseits dieser Ideologie und des Wachstumszwangs zu schaffen, weil unsere Wirtschaft nicht einfach immer weiterwachsen kann, ohne dass wir unsere Lebensgrundlagen zerstören.

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