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Ein kleiner Riese

Von Jan Michael Marchart

Wirtschaft

Die oft kritisierte Gig Economy spielt gesamtwirtschaftlich keine Rolle. Aber sie ist ein Weckruf für die Zukunft.


Wien. Radelnde Essenslieferanten, die mit riesigen Wärmeboxen auf dem Rücken als Tagelöhner arbeiten, Handwerker, die ihre Arbeitskraft versteigern, und Großunternehmen, die Aufträge in viele kleine Projekte zerlegen und an Freischaffender vergeben, die schon morgen wieder ohne Lohn dastehen können. Die sogenannte Gig Economy macht das durch die digitale Vernetzung weltweit schnell und unkompliziert möglich, gleichzeitig stiehlt sie uns die alte Stabilität. Hier gibt es keine festangestellten Arbeitnehmer mehr, die einen fixen Verdienst haben und sozial abgesichert sind. Bezahlt werden sie wie beim Fahrdienst Uber wie Musiker - pro Auftritt, pro "Gig". Diese entgrenzte Arbeitskultur erfasst immer mehr Bereiche, deren Beschäftigungsverhältnisse sie aushöhlt und billiger wie prekärer macht.

Oder ist das bloß Übertreibung? Inzwischen werden in der Wirtschaft Stimmen laut, die meinen, dass die Bedeutung der Gig Economy überschätzt wird. Eine Studie der US-Notenbank Fed kommt zu dem Schluss, dass sie gemessen an der Gesamtwirtschaft keine Rolle spielt. So gaben zwar drei von zehn Amerikanern an, dass sie im Monat vor der Umfrage mit solchen Jobs zu tun hatten, aber nur fünf Prozent der Anbieter erwirtschafteten damit die Hälfte des Familieneinkommens. Für die meisten ist die Plattformökonomie mehr ein Hobby oder ein Zuverdienst. Der typische Gig-Arbeiter arbeitet laut Fed nur fünf Stunden pro Monat, in drei von vier Fällen macht der Verdienst keine zehn Prozent des Einkommens aus. Die Studie ist bemerkenswert, weil sie die Situation in den USA abbildet, im Mekka der Plattformökonomie, und die Gig Economy hinter jenem Stellenwert zurückbleibt, der ihr zugerechnet wird. Es fahren also wohl weit weniger Uber-Taxis herum, als wir glauben.

Zwei Gegenrechnungen

Jeremias Prassl ist von der These nicht völlig überzeugt. Prassl ist außerordentlicher Professor der Rechtsfakultät der renommierten Universität in Oxford. Kürzlich erschien sein Buch "Humans as a Service". Darin erforscht Prassl die Chancen und Risiken der digitalen Arbeitswelt. In den meisten Ländern Europas mache die Gig Economy höchstens ein bis drei Prozent aus, sagt er, daher sei es richtig, dass sie nur ein kleiner Teil der Wirtschaft ist. Aber Prassl möchte dem zweierlei gegenüberstellen: "Das rapide Wachstum dieser Plattformen und, das ist das Wichtige, die Gig Economy ist nichts Spezielles und Separates, was auf dem Arbeitsmarkt passiert."

Nur weil moderne Technologien etwas schneller und effizienter machen, heiße das nicht, dass auch das dahinterliegende Geschäftsmodell neu ist. Prassl nennt das "Innovation Paradox". Wie der Europäische Gerichtshof festgehalten hat, sei Uber zwar eine moderne App-Plattform, aber unterm Strich nur eine Transportfirma. Mit dem Unterschied, dass sie, wie auch andere digitale Marktgrößen, die Ökonomie in einer Rasanz weiter auf den Kopf stellt, "indem Risiken des Marktes vom Arbeitgeber auf einzelne Arbeitnehmer umgeladen werden", sagt Prassl, für den so lange Geld fließt, solange er arbeitet. Wenn nicht oder im Krankheitsfall, ist der Geldhahn zu.

"Was wir beobachten, ist das Wegbrechen des traditionellen Arbeitsmodells, bei dem man einen Job bei einem Arbeitgeber für das gesamte Leben hat", sagt Prassl. Menschen arbeiten in kurzfristigeren und sozial wenig bis gar nicht abgesicherten Arbeitsverhältnissen und haben immer öfter mehrere Arbeitgeber gleichzeitig. Aber das sei nicht neu, sondern eine jahrzehntelange Entwicklung. Dennoch sei es wichtig, sich damit zu beschäftigen. "Die Lehren, die wir daraus ziehen und die sozialen Standards, die wir dafür festlegen, zählen für den gesamten Arbeitsmarkt, nicht nur für die Gig Economy."

Wer einen Blick in die Studie "Global Human Capital Trends" aus dem Jahr 2016 wirft, in der 7000 Führungskräfte in 130 Ländern weltweit befragt wurden, sieht, dass "klassische" Unternehmen auf die entgrenzte Arbeitskultur setzen. Demnach planen 42 Prozent der Befragten, in den nächsten drei bis fünf Jahren mehr mit freien Mitarbeitern zu arbeiten. Ebenso viele bereiten ihre Firmen auf den Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz vor, weshalb ihre Mitarbeiter darauf spezialisierte Fertigkeiten brauchen werden.

Laut der Studie spielen die geringen Kosten für Freischaffende eine entscheidende Rolle, aber auch der stetig wachsende Talentepool der meist besser gebildeten Kurzarbeiter. Gefragt sind vor allem Datenspezialisten, die projektweise engagiert werden können. Vor allem aber sind die Unternehmer unsicher, weil sie nicht wissen, was die digitale Zukunft mit sich bringt. Die Gig-Kultur dient als Übergangslösung, die man jederzeit abstoßen kann, weniger als handfestes Firmenkonzept.

Wie aber steht um es um die Verbreitung der Gig Economy an sich? In den USA geht die US-Nachrichtenagentur Bloomberg davon aus, dass sie nicht wächst. Im Gegenteil: Laut einem Bericht der US-Behörde für Arbeitsstatistiken sind heute weniger Menschen in alternativen Arbeitsformen beschäftigt als im Vorkrisenjahr 2005. Prassl glaubt, dass das Geschäftsmodell als Vermittler weiterwachsen wird. Das Potenzial für Taxi- und Lieferplattformen werde zwar relativ bald erschöpft sein, sagt er. "Aber es gibt eine Reihe anderer Arbeitssparten, wie die Pflege, die dadurch neu aufgerollt werden."

Eine sinnvolle Marktkorrektur

Gleichzeitig stellt sich immer häufiger die Frage, ob Firmen wie Uber nur neutrale Vermittler zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer sind - oder ob sie weitere Verantwortungen haben, etwa für die Freischaffenden oder für die Kunden und Auftraggeber.

Inzwischen werden solche Plattformen zunehmend mit Regulierungen konfrontiert. Solche Sicherungs- und Schutzmechanismen können unter Umständen das Wachstum der Plattformen bremsen und in manchen Fällen zu Preiserhöhungen für die Konsumenten führen, sagt Prassl. Das habe aber Vorteile für Arbeiter und Konsument, weil sie geschützter sind und mehr Lohn bezahlt werden müsste - aber auch für den Markt selbst. "Ein stärkeres Arbeitsrecht führt dazu, dass diese Unternehmen von Investoren reeller eingeschätzt werden, im Sinne einer Marktkorrektur", sagt Prassl.

Dass die Gig Economy dem Rechtsstaat wegen ihrer teils oligopolartigen Marktmacht auf lange Sicht die Regeln diktieren wird, glaubt Prassl nicht. Die Anbieter seien nicht unverwundbar. "Diese Firmen sind keine Bank, die über eine systemkritische Infrastruktur verfügt", sagt Prassl. "Im Zentrum steht die Technologie, die existierende Geschäftsmodelle effizienter macht." Es könne jeder eine ähnliche Plattform aufbauen und sollte eine bankrottgehen, gebe es 15 Unternehmer, die etwas Besseres anbieten können. Die Gig Economy sei too big to fail.

Jeremias Prassl ist beim Europäischen Forum Alpbach Vortragender des Seminars "Unsere Arbeit in unserer Zukunft".