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"Krise von 2008 könnte sich wiederholen"

Von Thomas Seifert

Wirtschaft
Stieglitz warnt...
© Image generated at wishafriend.com

Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz hält die derzeitige Finanzkrise in der Türkei für brandgefährlich.


"Wiener Zeitung": Es ist beinahe zehn Jahre her, dass die Investmentbank Lehman Brothers kollabierte - das war damals der Auslöser der Weltwirtschaftskrise. Kann sich so eine Krise auch heute wiederholen?

Joseph E. Stiglitz: Ein schwerer Schock für die Weltwirtschaft könnte das System auch heute wieder zum Einsturz bringen - das wäre dann eine Wiederholung der Krise des Jahres 2008. Es gibt heute aber bessere Puffer, die das System ein wenig besser stabilisieren. Aber in den USA arbeitet Präsident Donald Trump schon wieder daran, Regulierungen zurückzufahren, und einige der Marktteilnehmer verhalten sich schon wieder in verantwortungsloser Weise und sind an hochriskanten Geschäften beteiligt. Mir scheint, als hätten einige die Botschaft von 2008 noch immer nicht verstanden, und die Kultur der Branche hat sich auch nicht in ausreichender Weise geändert. Ein weiteres Problem im Jahr 2008 waren die globalen wirtschaftlichen Ungleichgewichte. Da gab es einerseits Länder wie Deutschland oder China, die riesige Leistungsbilanzüberschüsse erzielten, während andere gewaltige Leistungsbilanzdefizite aufzuweisen hatten.

Die Theorie lautete, dass wenn sich die Umstände auf den Weltmärkten und den Finanzmärkten ändern, diese Ungleichgewichte zutage treten und die Krise verstärken würden. Und genau das ist passiert: Plötzlich zögerten Kreditgeber, Volkswirtschaften, die große Leistungsbilanzdefizite hatten, Geld zu leihen. Die Finanzkrise in den USA und die globalen Ungleichgewichte zusammen haben die Weltwirtschaft damals fast in die Knie gezwungen. Es gibt übrigens eine Reihe von Ökonomen, die sagen, dass wir heute wieder in einer ähnlichen Situation sind. Länder mit einem hohen Leistungsbilanzdefizit, wie etwa die Türkei oder Argentinien, sind ja bereits in Schwierigkeiten.

...das System globaler Kooperation.
© Andrei Pungovschi

Die USA gehören übrigens ebenfalls in diese Gruppe, aber nachdem der US-Dollar die wichtigste Reservewährung der Welt ist, sind die USA eine Kategorie für sich. Viele ökonomischen Gesetze sind da außer Kraft gesetzt. Was mir im heutigen Kontext Sorge bereitet: Wir haben keine tauglichen Waffen, mit denen wir die nächste Krise bekämpfen können: Die Zinsen sind ohnehin niedrig und es gibt wenig politischen Appetit auf eine Belebung der Wirtschaft durch Investitionen.

Uns bleiben also nicht viele Mittel zur Krisenbekämpfung? Die Welt hat also den Medizinschrank seit 2008 leer geräumt?

So kann man das sagen. Wir haben wie gesagt die Puffer verbessert - wenn man im Bild bleiben will, könnte man sagen, das Immunsystem ist ein wenig stärker, aber wir haben wirklich nicht mehr viel ökonomisches Penicillin im Schrank. Die USA versuchen, das Zinsniveau wieder zu normalisieren. Und genau das ist derzeit eine Ursache für die Turbulenzen auf den Weltmärkten. Märkte denken sehr kurzfristig. Jeder vernünftige Mensch fragt sich, warum sich die Marktteilnehmer nicht schon vor einem Jahr auf diese Situation eingestellt haben. Es muss ja wirklich jedem klargewesen sein, dass die Zinsen steigen werden.

Wie schätzen Sie die derzeitige Krise in der Türkei ein?

Joseph E. Stiglitz (r.) wird von Thomas Seifert im Böglerhof in Alpbach. interviewt.
© Andrei Pungovschi

Die Lage ist ernst. Was die Sache noch dramatischer macht: Präsident Recep Tayyip Erdogan hat einige gute Ökonomen gefeuert. Obwohl einige von denen mit der autoritären Richtung, die das Land unter Erdogans Herrschaft genommen hat, nicht einverstanden waren, sind sie auf ihren Posten geblieben, um - wie sie glaubten - Schlimmeres zu verhindern. Doch nach dem Putschversuch wurden dann eben wie gesagt viele fähige Leute von Erdogan gefeuert. Jetzt sieht man, dass niemand da ist, der den Märkten Vertrauen zurückgeben könnte. Der jetzige Finanzminister Berat Albayrak, ein Schwiegersohn Erdogans, hat bei seiner ersten Pressekonferenz mehr Vertrauen verspielt als gewonnen.

Wird sich die Krise ausbreiten?

Die Türkei hat ein schweres Problem. Ob die Krise überschwappt, lässt sich aber derzeit noch nicht beantworten. Eines ist aber klar: Bei höheren Zinsen wird es für alle Volkswirtschaften mit hohem Verschuldungsgrad ungemütlich. Dann wird der Markt auch wieder auf Länder wie Italien blicken. Wenn die Zinsen auf drei oder vier Prozent steigen, dann schlittert Italien wieder in die Krise. Dazu kommt, dass die politische Situation im Land derzeit alles andere als einfach ist. Man braucht nicht allzu viel Fantasie, um sich dystopische Szenarien auszumalen: Was passiert, wenn beim Ausbruch einer Krise die Regierung in Rom vorschlägt, aus dem Euro auszusteigen? Dann würde auch die Eurozone von solch einer Krise erfasst.

Nach der Krise von 2008 gab es eine recht gute globale Koordination zur Krisenbekämpfung auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs der G20 und der Notenbanker. Da sieht die Welt heute anders aus, nicht?

Leider. Die USA haben das System globaler Kooperation total zerstört. Vor Trump gab es in Washington zumindest eine Rhetorik der Kooperation. Es gab den Glauben an eine internationale Ordnung, die allen nützt. Trump glaubt nicht an so was. Für ihn gibt es kein Win-win, sondern nur Nullsummenspiele.

Um in dem Bild von vorhin zu bleiben: Es ist nicht nur der Medizinschrank leer, im Falle einer Krise würden die Ärzte untereinander über die richtige Therapie streiten?

Exakt. Die einzige Hoffnung ist, dass eine solche Krise zu einem Weckruf würde. Ich mache mir da übrigens weniger Sorgen um die Europäische Union als um die USA. In Europa könnte man hoffen, dass die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron zusammenarbeiten. Aber ob die USA da mitspielen würden, ist fraglich.

Inwieweit sind die großen geopolitischen tektonischen Verschiebungen schuld an den derzeitigen Turbulenzen?

Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat im Jahr 1992, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, das Buch "Das Ende der Geschichte" publiziert. Fukuyamas These lautete, dass am Ende sich alle Staaten der Welt in Richtung liberaler Demokratien, die rechtsstaatliche Prinzipien achten, entwickeln würden. Heute glaubt niemand mehr an Fukuyamas "Ende der Geschichte". Denn solange etwa das chinesische Modell für China funktioniert, warum sollte Peking sein System überdenken? Und den US-Strategen ist gedämmert, dass, wenn man den Aufstieg Chinas stoppen will, man das vor mindestens 20 Jahren hätte tun müssen. Dazu ist es heute zu spät. Also gibt es jetzt eine neue System-Konkurrenz zwischen dem kommunistischen System mit chinesischen Charakteristika und dem westlichen Modell von Kapitalismus und liberaler Demokratie. Aber: Solange China seinen Bürgern Reisemöglichkeiten bietet und wenn unser System gut funktioniert, bleiben Europa, die USA, Australien und Kanada die Lieblingsdestinationen für talentierte junge Menschen aus China. Diese jungen Leute erkennen den Wert unseres Systems. Aber um in der Systemkonkurrenz zu obsiegen, brauchen wir wieder eine gerechte Gesellschaft. Solange die Einkommen von 90 Prozent der Menschen stagnieren und die Wachstumsdividende nur dem einen Prozent der Plutokraten nützt, erscheint das westliche Modell nicht besonders attraktiv. Also wünsche ich mir, dass wir wieder zeigen, dass unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem das bessere ist.