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"Yanis Varoufakis hat uns 100 Milliarden Euro gekostet"

Von Konstanze Walther

Wirtschaft
© Laurent Ziegler

Die "Wiener Zeitung" sprach mit Anna Diamantopoulou, einer der prominentesten Stimmen Griechenlands.


"Wiener Zeitung": Sie waren Mitglied der griechischen sozialistischen Regierung bis 2012 und waren davor auch EU-Kommissarin für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, kennen somit beide Seiten in der griechischen Krise sehr gut. In Alpbach haben Sie unter anderem mit Kurzzeit-Finanzminister Yanis Varoufakis der Syriza-Regierung abgerechnet. Warum?

Anna Diamantopoulou: Weil Varoufakis uns 100 Milliarden Euro gekostet hat. Im Jänner 2015, nach zwei Hilfspaketen, war Griechenland bereits auf dem Weg, sein finanzielles Problem in den Griff zu bekommen. Dann gab es diesen riesigen politischen Umbruch durch die vorgezogenen Parlamentswahlen. Plötzlich war mit Syriza eine linkspopulistische Partei an der Macht. Der von ihr als Finanzminister eingesetzte Varoufakis hat mehr oder weniger alles gestoppt, was bis dahin ausverhandelt und erreicht worden war. Also haben wir ganz von vorne anfangen müssen. Am Ende wurde Varoufakis von Premierminister Alexis Tsipras nach nicht einmal sechs Monaten gefeuert. Aber der Premierminister musste ein weiteres Abkommen mit den internationalen Geldgebern unterschreiben. Die Kosten davon beliefen sich für die Griechen auf rund 100 Milliarden Euro.

Varoufakis hat viele seiner Gesprächspartner vor den Kopf gestoßen. Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble hat er der Lüge bezichtigt, den Geldgebern Terrorismus vorgeworfen, Schäuble hingegen hatte sich "fassungslos" über die Forderungen von Varoufakis gezeigt.

Varoufakis hatte einen sehr neuartigen Zugang. Er legte ein grundverschiedenes Verhalten an den Tag, wenn man es nach europäischen Standards misst. Er hat damit gespielt. Und das Land hat mit ihm verloren. Man darf nicht vergessen, dass Varoufakis ein Bewunderer von Ernesto Laclau ist. (Der 2014 verstorbene argentinische Politologe Laclau sprach sich für einen linken Populismus aus und betonte unter anderem die Wichtigkeit von Feindbildern, auf die sich verschiedene Wählergruppen einigen können, Anm.)

Der damalige deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat bezüglich der griechischen Schulden immer eine harte Linie eingenommen. Er hat der Regierung in Athen auch ordentlich eingeschenkt und die Paktfähigkeit der Griechen offen angezweifelt.

Ich respektiere Schäuble, weil er sehr geradlinig ist, sehr klar. Er hat seine Meinung nicht geändert, und man hat immer gewusst, wofür er steht. Das bedeutet nicht, dass ich immer derselben Meinung war oder es gut finde, wie er den Süden oder andere Länder behandelt hat. Aber er war immer derjenige, der die Währungsunion retten wollte. Er hatte dabei das deutsche Wohlergehen an allererster Stelle. Aber das ist normal, er war schließlich ein in Deutschland gewählter Politiker.

Syriza hat die Wahlen 2015 mit einem anderen Programm gewonnen, als die Partei dann umgesetzt hat. Man wollte Griechenland aus der Krise befreien, den Schuldenschnitt herbeiführen und sich nicht mehr länger von der Troika das Leben diktieren lassen. Ein halbes Jahr später musste Tsipras, da das Land vor dem absoluten Bankrott stand, ein neues Hilfspaket in Höhe von 86 Milliarden Euro unterzeichnen. Reformzwang und Sparpakete inklusive.

Ich glaube, dass der Sieg Syrizas im Jahr 2015 wirklich der Sieg einer großen Lüge war. Tsipras log die Menschen an. Er spielte mit dem Volk. Dann kam er an die Regierung. Und natürlich musste er dann alles akzeptieren, was die EU diktierte. Aber ich fürchte, dass die Regierung nicht einmal in der Lage ist, alles, wozu sie sich verpflichtet hat, zu implementieren. Die Situation erscheint heute nur stabiler als früher, weil es keine Proteste auf den Straßen mehr gibt. Aber die Wirtschaft stagniert. Vor allem, weil diese Regierung sehr dogmatische Ideen über das Steuersystem hat und darüber, wie der Privatsektor arbeiten sollte.

Glauben Sie, dass Tsipras und seine Partei bewusst gelogen haben, oder haben sie sich in einem Idealismus verrannt und blind auf ihre Ideen vertraut?

Ich glaube, dass, wenn jemand zu diesem Zeitpunkt noch immer idealistisch war, er ein kompletter Narr gewesen sein muss. Denn alles war klar, alles war niedergeschrieben, die Situation war offensichtlich. Ich glaube, Tsipras hat absichtlich gelogen. Er wusste ganz genau um die Situation, er dachte, er könnte sie irgendwie meistern. Weil er zu diesem Zeitpunkt nicht das Kräfteverhältnis auf der internationalen Ebene verstanden hat. Er hat also zwei Sachen gemacht: Einerseits hat er gelogen. Andererseits hat er seine Macht überschätzt.

Es gibt nicht mehr so viele Demonstrationen in Griechenland, aber das Land ist gezeichnet. Die Geburtenrate geht zurück. Die Jungen wandern aus. Und der Schuldenstand ist mit 180 Prozent des jetzigen Bruttoinlandsprodukts sogar noch höher als 2009, vor Ausbruch der Griechenland-Krise, als sich die Verschuldung auf nur 127 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belief. Ist denn nun das Schlimmste für Griechenland nach acht Krisenjahren vorbei?

Wir können schon hier und da in der Privatwirtschaft Hoffnungsschimmer erkennen. Manche Sachen sind besser geworden. Es gibt verschiedene Felder, die entstanden sind. Aber für die Menschen in Griechenland gibt es nach wie vor keine Veränderung. Die Arbeitslosenrate ist weiterhin sehr hoch. Die neu geschaffenen Jobs sind nicht Vollzeit-, sondern hauptsächlich Teilzeit-Stellen. Das bedeutet ein Monatsgehalt von 380 Euro. Damit können junge Menschen weder ein selbständiges Leben führen, geschweige denn eine Familie gründen. Die Volkswirtschaft insgesamt stagniert, und es gibt keine Perspektiven für etwas wirklich Neues. Es gibt keine Vision für das Land. Ich glaube nicht, dass wir derzeit auf eine Veränderung hoffen können. Es fehlt, auch auf europäischer Ebene, eine Idee, was für ein Land Griechenland in der Zukunft werden soll. Es läuft alles bisher darauf hinaus, dass die Vorgaben, die Bedingung für die Hilfsprogramme waren, implementiert werden. Das ist ja noch der leichtere Job. Das muss eben jede Regierung machen. Aber was geschieht darüber hinaus? Welche Art von Wachstum wollen wir haben? Wollen wir ein digitales Griechenland? Ein touristisches? Ein landwirtschaftliches? Wir müssen eine Vision haben und damit die jungen Menschen inspirieren. 500.000 junge Griechen sind bereits ausgewandert.

Die später umbenannte Troika, die die Griechenland-Sparprogramme verhandelt hat, bestand aus der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds, IWF. Während der IWF inzwischen offen zugibt, dass im Fall Griechenland Fehler gemacht worden sind und die Programme zu streng waren, habe ich so etwas von der Europäischen Kommission noch nicht gehört.

Viele Menschen haben bereits über die Fehler geschrieben. Wenn wir uns die Zahlen ansehen - die Bevölkerung geht kontinuierlich zurück, das Bruttoinlandsprodukt ist um ein Drittel geschrumpft -, dann gibt es keinen Grund, damit zufrieden zu sein. Und leider hat die Europäische Kommission ihre Fehler nicht eingestanden. Aber es wäre dringend notwendig, um das Thema neu zu denken. Denn sonst stagniert die Wirtschaft noch für die nächsten Jahrzehnte. Und wir können nicht wissen, wie sich die politische Situation entwickelt, wenn wir so wie bisher weitermachen. Wir können uns nicht mit einer Situation zufriedengeben, in der die Jungen das Land verlassen. Keine Familien mehr gründen. Zutiefst depressiv sind. Das ist keine nachhaltige politische Situation.

Die nächsten Wahlen in Griechenland sind voraussichtlich in einem Jahr. Wer wird gewinnen?

Laut Umfragen die Konservativen. Wir werden sehen.

Anna Diamantopoulou ist eine ehemalige Politikerin der sozialdemokratischen Partei Pasok. Sie war 1999 bis 2004 EU-Kommissarin für Beschäftigung und von 2009 bis 2012 Ministerin in der Regierung Giorgos Papandreou. Sie ist Präsidentin des "Diktio"-Thinktanks und Gast bei dem Europäischen Forum Alpbach.

Anna Diamantopoulou leitet gemeinsam mit Stefanie Wöhl bei dem Europäischen Forum Alpbach derzeit das Seminar "Ökonomische Schocks".