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Die Nullen sind weg, die Krise bleibt

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Wirtschaft

Reformen sollen helfen, Venezuelas katastrophale Versorgungslage und die Hyperinflation in den Griff zu bekommen.


Bogota. Die Tankstellen in San Cristobal gleichen kleinen Festungen. Militärs bewachen die Anlieferung des wohl wertvollsten Gutes, das dem Land geblieben bist. Wer in der Grenzstadt einen vollen Tank ergattern will, parkt seinen Wagen schon einen Tag vor der erhofften neuen Lieferung in der langen Schlange vor der Tankstelle. Sprit gibt es in Venezuela bislang so gut wie umsonst. Ein ökologischer und ökonomischer Irrsinn, der ideologisch begründet ist. Venezuelas Sozialisten wollten ihrem Volk den Sprit schenken. Im ölreichsten Land der Welt sollten die Bürger fürs Autofahren nichts bezahlen. Vor fast 20 Jahren spülten Unruhen um geplante Benzinpreiserhöhungen Revolutionsführer Hugo Chavez und seine Sozialisten an die Regierung. Auch deshalb wagten sich die "Chavisten" nie an diese heilige Kuh. Das soll nun anders werden.

Künftig sollen die Venezolaner für das Benzin bezahlen - wer im Besitz einer regierungsnahen "Vaterlandskarte" ist, weniger als jene ohne diesen umstrittenen Ausweis. Es ist einer von mehreren Versuchen, die katastrophale Wirtschaftslage im Land in den Griff zu bekommen.

Reformen als Nagelprobe

Zudem steht Venezuela eine Währungsreform bevor. Wieder einmal werden ein paar Nullen auf den Geldscheinen gestrichen. Aus 1.000.000 Bolivar wird so eine 10-Bolivar-Note. Ein 500-Bolivar-Schein hat auf dem Schwarzmarkt nun einen Wert von umgerechnet sechs Euro. Aus dem "starken" Bolivar wird nun ein "souveräner" Bolivar, der an die Kryptowährung Petro gekoppelt wird. Ob die Realität den schmucken Worten folgen wird, ist eine andere Frage.

Für Maduro werden die Wirtschaftsreformen zu einer Nagelprobe. Im Wahlkampf, zu dem seine härtesten Rivalen nicht zugelassen waren, hat er einen Neustart und bessere Zeiten versprochen. Nun gibt es vorsichtige Versuche einer Re-Privatisierung. Maduro kündigte den Verkauf von öffentlichen Vermögenswerten des Nationalen Zivilluftfahrtinstituts und des Integrierten Landverkehrssystems an, sodass der Busverkehr künftig privat organisiert werden könnte. Es ist eine vorsichtige Kehrtwende, um die katastrophale Versorgungslage im Land in den Griff zu bekommen. Eine Schachtel Eier, wenn sie den im Supermarkt überhaupt verfügbar ist, kostete bislang einen monatlichen Mindestlohn. Auch den hob Maduro - zum wiederholten Male - in diesem Jahr an. Solche Radikalmaßnahmen sind die Venezolaner gewohnt. Bereits der inzwischen verstorbene Revolutionsführer Chavez versuchte es mit einer "neuen" Währung und dem Abschied von den vielen Nullen auf den Geldscheinen.

Venezuelas Staatshaushalt hängt fast ausschließlich von den Öleinnahmen ab. In Zeiten des hohen Ölpreises im vergangenen Jahrzehnt glich die Regierung Chavez den Mangel in der eigenen Produktion von Lebensmitteln und Medikamenten mit teuren Importen aus. Das verleitete auch zu ideologisch motivierten Entscheidungen wie der Umstellung der Privatwirtschaft auf eine Planwirtschaft nach kubanischem Vorbild. Nahezu alle Branchen und Unternehmen wurden verstaatlicht, regierungstreue Beamte mit dem richtigen Parteibuch aber ohne notwendige Kompetenz übernehmen die Führung der Betriebe. Das Vertrauen in die venezolanische Wirtschaft schwand, dafür stiegen die Preise und die Inflation.

Schuld sind die anderen

Und mit ihnen kam der Schwarzmarkt. Umgebaute Fahrzeuge mit Tanks von bis zu 200 Litern kostenfreiem Sprit machten sich auf den Weg über die Grenze nach Kolumbien und Brasilien, wo marktübliche Preise gezahlt werden. Der Schmuggel und der katastrophale Zustand des durch linientreue, aber ahnungslose Parteifunktionäre gesteuerte und heruntergewirtschaftete staatliche Konzern PDVSA sorgten dafür, dass im ölreichsten Land der Welt tatsächlich der Sprit Mangelware wurde.

Präsident Maduro macht stets einen Wirtschaftskrieg neoliberaler Kräfte in den USA für den Niedergang seines Landes verantwortlich. Aber es waren eigene katastrophale Fehlentscheidungen wie die Einführung von sogenannten "gerechten Preisen". Nicht der Markt, nicht die Produktions- und Vertriebskosten legten die Preise für die Produkte fest, sondern die Regierung. Preisspitzel überwachten deren Einhaltung. Den Händlern blieb nur die Aufgabe, das Gefängnis oder der Schwarzmarkt.

All das sowie die Ausschaltung der Opposition, die bei den Parlamentswahlen 2015 eigentlich einen klaren Sieg eingefahren hatte, führt zu einem Massenexodus. Laut UNO haben jüngst mehr als 2,3 Millionen Menschen das Land verlassen. Ecuador wusste sich angesichts 570.000 eingereister Venezolaner seit Jahresbeginn nicht anders zu helfen, als den humanitären Notstand auszurufen und künftig einen Reisepass bei der Einreise zu verlangen. Weil aber auch die Produktion von Reisespäßen in Venezuela stockt, bedeutet das praktisch einen Einreisestopp.

Kolumbien muss als direkter Nachbar bereits mindestens eine Million Geflüchteter integrieren. In Brasiliens Norden, der rund 130.000 Venezolaner aufnahm, kam es am Wochenende zu schweren Ausschreitungen. Der Mob machte Jagd auf die Flüchtlinge in der Grenzstadt Pacaraima. Anlass war ein Überfall von vier venezolanischen Flüchtlingen auf einen lokalen Händler. Daraufhin entlud sich der Zorn der Brasilianer gegen die Flüchtlinge. Mehr als 1000 Menschen sollen daraufhin in Panik zurück über die Grenze geflohen sein. Zurück ließen sie ihr letztes Hab und Gut, das der aufgebrachte Mob in Flammen aufgehen ließ.