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Chinas Schwenk nach Westen

Von Thomas Seifert

Wirtschaft

Das Reich der Mitte hat das Eintrittstor in die EU entdeckt. Österreich bietet sich als Sprungbrett in die Region an.


Dunhuang/Wien. Von den Fenstern des riesigen Dunhuang Hua Xia International Hotels in Dunhuang in der chinesischen Provinz Gansu sieht man die Sanddünen, die sich vom Stadtrand aus viele Kilometer nach Norden und Süden erstrecken.

Die Stadt war nach ihrer Gründung durch Kaiser Wudi aus der westlichen Han-Dynastie ein bedeutender Knotenpunkt an der alten Seidenstraße. Hier teilten sich die Karawanenrouten, um die Taklamakan, die zweitgrößte Sandwüste der Welt, im Norden und Süden zu umgehen. Die Stadt prosperierte, Dunhuang spielte eine große Rolle im Austausch von Waren und Reichtümern, aber auch im kulturellen Austausch zwischen China und dem Westen. Von Dunhuang aus, so nimmt man an, hat sich der Buddhismus in China verbreitet.

Spätestens ab dem 18. Jahrhundert versank Dunhuang in einem Dämmerschlaf. Der Seehandel begann, die Trampeltier-Karawanen Schritt für Schritt zu ersetzen, das Mogulreich, Chinas wichtiger Handelspartner, fiel unter britische Kolonialherrschaft und die Handelsrouten des indischen Raj orientierten sich am Britischen Empire. Unter dem Druck der Briten versank das chinesische Kaiserreich schließlich im Chaos, die Seidenstraße war wie vom Winde verweht und China musste sich immer mehr den westlichen Mächten unterwerfen: 1839 unterlag das chinesische Kaiserreich den Briten im Opiumkrieg, 1842 wurde dem Qing-Kaiser in Nanjing ein Vertrag aufoktroyiert, der das Kaiserreich zwang, sich dem Handel mit westlichen Mächten zu öffnen und - als Draufgabe - Hongkong dem Britischen Empire zu überlassen. Die Chinesen sprechen von einem "Jahrhundert der Erniedrigung", das vom Opiumkrieg 1839 bis zum Gründungsjahr der Volksrepublik China im Jahr 1949 andauerte.

Und in China spricht man auch von einem Wiederaufstieg zu alter Größe, wenn man zwischen Peking und Kaxgar über das chinesische Wirtschaftswunder seit der Reform- und Öffnungspolitik, die Deng Xiaoping im Jahre 1978 begonnen hat, diskutiert.

Unter Präsident Xi Jinping ist in China wieder viel von einer nationalen Erneuerung und dem Zhongguo meng, dem chinesischen Traum die Rede: Xi Jinping träumt von einer Verdopplung des Bruttoinlandsprodukts vom 2010 bis zum Jahr 2020, einem Militär, das in der Lage ist, "Kriege auszufechten und zu siegen", und der Schaffung eines zumindest rudimentären Wohlfahrtsstaats.

Eines der zentralen Elemente von Xi Jinpings Vision eines neuen China ist ein China, das sich selbstbewusst auf der internationalen Bühne bewegt und seine in den jüngeren Jahrzehnten wiedererworbene Macht einzusetzen weiß. China sieht sich wieder als "Reich der Mitte", als Epizentrum Asiens. Im September 2013 hielt Xi Jinping eine Rede vor Professoren und Studenten an der Nazarbajew-Universität in der kasachischen Hauptstadt Astana und sprach über eine "neue Seidenstraße". Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass die Oasenstadt Dunhuang wieder aufblüht: Der chinesische Traum der Wiederbelebung der Seidenstraße hat der Stadt neues Leben eingehaucht, der Tourismus blüht und auch der Handel findet zu alter Größe zurück.

Die Pläne sind ambitioniert: 60 Nationen in Asien, Nahost, Afrika und Europa sollen an die neue Seidenstraße angeschlossen werden, 70 Prozent der Weltbevölkerung und 55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wären dadurch erfasst. Die China-Expertin Elizabeth C. Economy zitiert in ihrem vor kurzem erschienen Buch "The Third Revolution" Xue Li, Direktor der Abteilung für Internationale Strategie an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften (CASS - Chinese Academy of Social Sciences), der das Konzept der "neuen Seidenstraße" als "Top Design" von Xi Jinpings Außenpolitik bezeichnet. Xue sagt, die "neue Seidenstraße" entspringe nicht zuletzt dem Wunsch von Präsident Xi Jinping, "etwas Großes" zu unternehmen, und würde auch zu seinem historischen Erbe beitragen. Mit der neuen Seidenstraße, so Xue, würde sich auch das Selbstverständnis Chinas wandeln: China würde sich nicht mehr länger als ostasiatisches Land sehen, sondern als Land, das sich im Zentrum Asiens sieht.

Die neue Seidenstraße als Teil chinesischer Geo-Strategie

Im Buch "The Third Revolution" gibt Autorin Elizabeth C. Economy auch Zhang Yunling, den Direktor für internationale Studien an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, wieder: "China sieht die neue Seidenstraße als Teil seiner Geo-Strategie. Man könnte es als Chinas ‚Schwenk nach Westen‘ begreifen." Und Economy fügt diesem Zitat die Aussage des Generalmajors der chinesischen Volksbefreiungsarmee Qiao Liang hinzu, der die Seidenstraßen-Initiative als "Absicherung gegen einen Schwenk der USA in Richtung Osten und Asien" bezeichnet.

Bei Chinas Schwenk nach Westen spielen Ostmittel- und Südosteuropa eine herausragende Rolle. Diese Länder dienen China als Tor zu den Märkten Westeuropas. China anerkennt auch die strategische Bedeutung dieser Region mit der Schaffung des sogenannten "16+1"-Formats. In dieser Konstellation gibt es regelmäßige Treffen und Projekte mit elf EU-Mitgliedsländern, nämlich Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Estland, Litauen, Lettland, Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, sowie den fünf Balkanländern Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro und Serbien in einer diplomatischen Initiative. Das "16+1" steht für China. Der erste Gipfel in dieser Zusammensetzung fand bereits im Jahr 2012 - also noch ein Jahr, bevor die "neue Seidenstraße" offiziell aus der Taufe gehoben worden war - statt. Österreich ist übrigens mit Beobachterstatus bei diesem Format dabei.

In Brüssel ist man allerdings skeptisch: Denn die EU-Kommission sieht es gar nicht gerne, dass die Vertreter einzelner EU-Mitglieder bei Treffen mit chinesischen Spitzenpolitikern die gemeinsame Außenpolitik der Union untergraben könnten.

Die chinesische Ökonomin Chen Xi von der China Europe International Business School (CEIBS) mit Sitz in Shanghai beschäftigt sich mit den Wirtschaftsbeziehungen Chinas zu den 16 Ländern des "16+1"-Formats. Nach ihren Einschätzungen sind die baltischen Republiken für China vor allem in Hinblick auf deren IT-Kompetenz von Interesse, die Staaten der Visegrad-Gruppe würden als vergleichsweise gut entwickelte Volkswirtschaften ebenfalls interessante Partner für das Reich der Mitte. Rumänien und Bulgarien seien zwar wirtschaftlich weniger entwickelt als die meisten anderen mittel-/ost-europäischen Länder der EU, könnten in Zukunft aber bei Tourismus-Kooperationen mit China punkten: "Bulgarien ist preiswert und es gibt wunderbare Strände, und das könnte chinesische Touristen ansprechen." China interessiert sich aber auch für Polens Landwirtschaft: "Polen möchte mehr Früchte auf den chinesischen Markt exportieren, hier gibt es in jedem Fall Marktchancen. Die Essgewohnheiten in China ändern sich gerade. Viele junge Chinesen sind an europäischen Essensgewohnheiten interessiert. Da gibt es sicherlich Exportmöglichkeiten."

Die Rolle Österreichsbei Chinas Plänen

Welche Rolle kann Österreich bei den Plänen der neuen Seidenstraße spielen? Chen Xi: "Österreich ist in der Regionen ein sehr aktiver Player. Österreich ist ein wichtiger Investor, Wien ist für viele Länder der Region ein wichtiger Bezugspunkt. Dazu kommt, dass es in Österreich eine Menge Expertise über die Region gibt. Die zentrale Lage in der Mitte Europas macht das Land zu einem wichtigen Partner für Infrastrukturprojekte. Welche Eisenbahnprojekte in diesem Teil Europas man auch immer plant, Österreich spielt bei den Überlegungen stets eine Rolle. Aus dieser Perspektive ist man in China sehr erfreut, dass Österreich an diesen Projekten ebenfalls großes Interesse hat."

Allerdings gibt es auch Rückschläge: So hat in Asien Malaysia einer milliardenschweren Bahnstrecken-Investition Chinas und anderen von China finanzierter Mega-Projekten einen Riegel vorgeschoben. Das jetzt gestoppte Eisenbahn-Projekt ist ein wichtiger Bestandteil der neuen Seidenstraße. Neben der etwa 20 Milliarden US-Dollar (17,5 Milliarden Euro) teuren Bahnverbindung, die mit chinesischen Krediten und Staatsfirmen gebaut werden sollte, sind auch zwei Pipelines betroffen. In Kuala Lumpur hieß es, Malaysia könne sich die Projekte derzeit nicht leisten.

In Europa ist die EU-Kommission skeptisch: Die Bahnstrecke Belgrad-Budapest soll mit chinesischer Hilfe erneuert werden, die Fahrzeit für die rund 350 Kilometer soll von aktuell acht auf gut zweieinhalb Stunden verkürzt werden, die Kosten für die Sanierung der rund 160 Kilometer langen Teilstrecke werden bei rund 550 Milliarden Forint (1,8 Milliarden Euro) liegen. 85 Prozent dieser Summe werden durch einen chinesischen Kredit finanziert, die Bauarbeiten werden von einem chinesischen Konsortium ausgeführt. Betrieben werden soll die Strecke nach ihrer Fertigstellung von einem Joint Venture: Die ungarische Staatsbahn MÁV hätte daran einen 15-prozentigen Anteil, die restlichen 85 Prozent hält ihr chinesisches Pendant. Kritiker streichen heraus, dass die Strecke derzeit von lediglich 4000 Passagiere täglich genutzt wird und - sollte sich die Strecke doch als profitabel herausstellen - die Profite vor allem an chinesische Unternehmen gehen werden. Für die Regierung in Budapest überwiegen hingegen die Standortvorteile. Die EU-Kommission kritisiert, dass Ungarn bei der Vergabe des Auftrages für den Streckenumbau die EU-Richtlinien zur Ausschreibung von solchen Großprojekten missachtet habe und hat schon im Februar 2017 eine Untersuchung eingeleitet. In Brüssel wird zudem kritisiert, dass das Projekt der neuen Seidenstraße vor allem dazu diene, Überkapazitäten chinesischer Unternehmen abzubauen.

Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) hat sich bereits im Juni dieses Jahres in einer Studie mit den Chancen und Risiken des Seidenstraßenprojekts für Ost-/Mitteleuropa auseinandergesetzt. Studienautorin Julia Grübler wies in ihrer Studienpräsentation ebenfalls auf die Gefahr einer hohen Staatsverschuldung durch die Finanzierung der Projekte hin. Einige Experten würden zudem davor warnen, dass intransparente Vergabeprozesse der Seidenstraßen-Projekte das in der Region verbreitete Korruptionsproblem weiter anfachen könnten. Dass die beteiligten Länder in eine stärkere politische Abhängigkeit kommen könnten, sei ein weiteres Risiko. Auf der Plus-Seite verzeichnet Grübler steigende Einkommen, eine Reduzierung der Transportkosten und eine Verkürzung der Transportzeiten, eine mögliche Diversifizierung der Exporte und Importe der beteiligten Volkswirtschaften sowie eine Stärkung er inter- und intraregionalen Kooperation der beteiligten Länder.

Die Autorinnen und Autoren der WIIW-Studie haben auch versucht, die möglichen Effekte der chinesischen Infrastrukturprojekte auf die Volkswirtschaften des Westbalkans zu berechnen, und kommen dabei zu folgendem Schluss: Am spürbarsten wären nach dem Modell des WIIW die Effekte für Montenegro und Bosnien-Herzegowina (10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts), Serbien (7 Prozent) und etwas über 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Mazedonien. Der Impact für die baltischen Republiken liegt nach den WIIW-Modellen bei nahe null (0,02 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) und bei etwas mehr als einem Prozent für Ungarn.

Die siebenChancen für Österreich

Für Österreich sieht Grübler Chancen in sieben Politik-Bereichen: etwa im Ausbau der Breitspurstrecke Koice-Wien und der Schaffung eines Logistik-Knotens Bratislava-Wien. Große Potenziale vermutet das WIIW auch in einer Vertiefung der Tourismus-Zusammenarbeit: Einerseits würden weitere Vereinfachungen der Visabestimmungen den Tourismus beflügeln, genauso wie eine Erhöhung der Flugfrequenz bei Flügen zwischen China und Österreich. Eine für den Personenverkehr interessante transeurasische Eisenbahnstrecke würde wiederum dem Langstrecken-Bahntourismus neue Impulse geben. Ein neuer Anlauf für ein Handelsabkommen würde laut WIIW den Warenverkehr beflügeln. Auf der Industrie-Seite würden die Chancen für Österreich in der Schaffung eines chinesisch-österreichischen E-Automotiv-Hubs liegen. Hier könnten sich in Zukunft vor allem bei der Produktion von Elektro-Fahrzeugen Kooperationsmöglichkeiten zwischen chinesischen und österreichischen Unternehmen ergeben. In der Zusammenarbeit beim Ausbau der nächsten Generation des superschnellen mobilen Internets (5G), dem Nachfolger des derzeit verwendeten 4G-Systems Long-Term-Evolution LTE, stecken laut WIIW ebenfalls Potenziale.

Eine engere Bankenzusammenarbeit sei laut WIIW für die weitere Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und Österreich ebenfalls wünschenswert. Österreichische Banken sind seit Jahrzehnten in China aktiv (vor allem Raiffeisen und Bank Austria), Bank of China, die drittgrößte Bank Chinas, ist seit Dezember 2015 in Wien tätig. Die chinesische Großbank ICBC Industrial and Commercial Bank of China Limited hat Ende August eine Banklizenz von der EZB bekommen und wird in Kürze eine Zweigstelle in Wien eröffnen.

Das WIIW regt zudem die Schaffung einer chinesisch-österreichischen Investitionsbank für den Westbalkan an, die sich auf die Finanzierung von Transportinfrastruktur-Projekten spezialisieren könnte. Der Investitionsbedarf am Westbalkan in Sachen Straßen- und Eisenbahnverbindungen - das geht aus den Daten der WIIW-Studie deutlich hervor - ist nach wie vor gewaltig.