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Europas Osten holt auf

Von Karin Rogalska, Martyna Czarnowska und Michael Schmölzer

Politik

In Polen, der Slowakei und Tschechien mangelt es an Facharbeitern, die Löhne erreichen teils West-Niveau.


Bratislava/Wroclaw. Ein Heer an Arbeitwilligen aus osteuropäischen Ländern, die nach Westeuropa kommen, um dort zu Dumpingpreisen zu arbeiten und den Ansässigen die Jobs wegzunehmen? Nach der EU-Osterweiterung war diese Angst allgegenwärtig, die Gewerkschaften liefen Sturm. Doch mittlerweile steht fest: Ohne zahlreiche Ungarn, Slowaken, Tschechen und Polen, die in der Gastronomie oder der Altenpflege tätig sind, wäre eine Aufrechterhaltung dieser Bereiche nicht denkbar. Gleichzeitig hat der Influx die Arbeitslosigkeit in Österreich - und auch in Deutschland - nicht erhöht. Im Gegenteil: In beiden Ländern wird derzeit über einen Mangel an Facharbeitern geklagt. Wie auch im Osten.

Denn der Arbeitsmarkt in den osteuropäischen Ländern hat sich in den vergangenen Jahren komplett gewandelt. Phänomene wie Abwanderung und eine extrem niedrige Geburtenrate - in der Slowakei liegt sie bei weniger als einem Kind pro Frau im gebärfähigen Alter -, führen dazu, dass Wirtschaftswachstum und Pensionssysteme in Gefahr sind. Auf der anderen Seite gibt es Lohnzuwächse, die sich auf einigen Gebieten fast im zweistelligen Bereich bewegen - etwa in der Autoindustrie im Raum Bratislava.

So haben sich im Juni des Vorjahres die Arbeiter von Volkswagen Slovakia mit Rückendeckung der Regierung eine Lohnerhöhung von 14 Prozent erstreikt. Westliche Medien werteten dies schon als Anfang vom "Ende des Billiglohn-Paradieses Osteuropa". Tatsächlich haben die Gehälter in den osteuropäischen Staaten angezogen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen in Bratislava liegt derzeit leicht über dem im Burgenland.

Einkommen ziehen an

In Tschechien stiegen die Durchschnittslöhne ebenfalls deutlich; sie liegen heuer bei knapp 1250 Euro. Das bedeutet um 8,6 Prozent mehr als vor einem Jahr. Als einer der Gründe für die Zuwächse gilt auch hier die positive wirtschaftliche Entwicklung: Das Wachstum beträgt mehr als vier Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist rekordverdächtig niedrig. Für das kommende Jahr wird ein weiterer Lohnanstieg um sechs bis sieben Prozent erwartet. Am meisten ist in Prag zu verdienen, wo die Einkommen in manchen Bereichen beinahe westliches Niveau erreicht haben.

Im öffentlichen Sektor sieht es freilich anders aus: Lehrer und Pfleger sind chronisch unterbezahlt. Eine Krankenschwester in Tschechien verdient mit allen Zulagen 650 Euro netto, ein Lehrer 900 Euro. In den am schlechtesten bezahlten Bereichen gibt es gar nur 450 Euro; das gilt etwa für Kellner und Küchenhilfen. Dass sich gerade diese Kräfte in Westeuropa nach höher dotierten Jobs umsehen, ist daher nachvollziehbar.

Auch das führt dazu, dass im Osten Unternehmen und Auslandsinvestoren Klagen über Facharbeiter-Mangel erheben. So bedauert der Präsident der Deutsch-Slowakischen Industrie- und Handelskammer, Jürgen Knie, dass es in fast jeder Branche schwierig sei, Mitarbeiter zu finden. "Das ist das größte Wachstumshemmnis, das wir derzeit haben." Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten verrichten jetzt vermehrt einfache manuelle Tätigkeiten. Die Belegschaft im Werk des britischen Investors Jaguar Land Rover nahe der südslowakischen Stadt Nitra beispielsweise besteht zum Großteil aus Serben.

Etliche Slowaken wiederum, vor allem jüngere Arbeitnehmer in Bratislava, sind sich ihres Marktwerts mittlerweile bewusst. Wie Zuzana Rubikova, die bei einem kleineren deutschen Unternehmen in der Hauptstadt Software testet. Die Anfänge ihrer Berufstätigkeit waren allerdings mühsam. "Greif beim ersten Angebot zu, dann hast du Geld - das haben mir meine Eltern eingeimpft", erinnert sich die 35-Jährige, die aus Kremnica in der Mittelslowakei stammt. So landete sie in den Call Centern zweier Großkonzerne, "wo ich nur eine Nummer und ständig müde war". Inzwischen gebe es viele Jobs, und so habe sie sich bewusst Zeit gelassen, um ihren jetzigen Arbeitgeber zu finden, der unter anderem viel in ihre Weiterbildung investiert. "Vielleicht würde ich woanders etwas mehr verdienen, aber die Atmosphäre stimmt, und ich möchte endlich länger in einem Unternehmen bleiben", erzählt Rubikova.

Aufschwung mit EU

Die im Südwesten Polens gelegene Stadt Wroclaw zählt ebenfalls zu den boomenden Wirtschaftsstandorten Mittel- und Osteuropas. Auf die Tristesse der 1990er Jahre, als etliche staatliche Betriebe schließen mussten, weil sie unrentabel waren, auf die Auswanderung hunderttausender Polen, die sich auf die Suche nach Jobs im Ausland machten, kam der Aufschwung des Landes. Polen wusste zunächst die Finanzhilfen vor dem EU-Beitritt gut zu nutzen, und nach der Aufnahme in die Gemeinschaft profitierte es weiterhin von den Infrastrukturförderungen. Für Auslandsinvestoren waren die neuen Absatzmärkte attraktiv: Österreichische Banken und Versicherungen setzten gleich nach 1989 zum Sprung nach Osteuropa an. Jobs in der Finanzindustrie, im Baugewerbe und in anderen Bereichen wurden geschaffen.

War 2013 laut der Statistikbehörde Eurostat jeder zehnte Pole ohne Beschäftigung, hat sich die Zahl der Arbeitslosen im Vorjahr mehr als halbiert. Auch wenn die Einkommensungleichgewichte noch immer groß sind: Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt mittlerweile rund 70 Prozent des EU-Durchschnitts. Vor zehn Jahren lag es gerade einmal bei etwa 50 Prozent.

Der ökonomische Aufschwung lässt sich daher auch in Polen nicht mehr durch heimische Arbeitskräfte allein aufrechterhalten, was eben in Wroclaw sichtbar wird. Hier wie andernorts buhlt die Regierung um Arbeitsmigranten vor allem slawischer Abstammung. Und so hängen in vielen Straßen Jobangebote in russischer oder ukrainischer Sprache aus.

Nach Angaben des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) kam es in Polen zu einer Explosion der Nachfrage nach ausländischen, vor allem ukrainischen Arbeitskräften: Der Anstieg habe seit 2015 an die 133 Prozent betragen. Demnach hätten die Arbeitgeber im Vorjahr ein Interesse an der Beschäftigung von beinahe zwei Millionen Ausländern verzeichnet. Jedoch wurden 2017 nicht einmal 270.000 neue personalisierte Arbeitserlaubnisse erteilt.

Immigranten umworben

Mit der Polen-Card wiederum wirbt die Regierung seit 2008 um die Immigration von Erwerbstätigen mit polnischen Wurzeln, vor allem in der Ukraine und in Weißrussland. Mit Hilfe der Karte können Einwanderer auch in anderen EU-Staaten arbeiten, was unter anderem für Verstimmungen zwischen Warschau und Berlin gesorgt hatte, weil Deutschland die Weiterreise etlicher Menschen von Polen aus befürchtet hatte.

Switlana Goga betrifft das allerdings nicht. "Wegen des Krieges bei uns in der Ost-Ukraine bin ich froh, dass mein Mann polnische Wurzeln hat und wir hierher kommen konnten", strahlt die 24-Jährige, die als Englisch-Sprachlehrerin in Wroclaw arbeitet. Es gebe gar keinen Grund für das Paar, weiterzuziehen. Sie habe schon tolle Jobangebote bekommen, will aber erst noch ihr Polnisch verbessern, "um wirklich alles geben zu können".

Der 32-jährige Artur Kowal aus Weißrussland wiederum ist als Informatiker bei einer kleineren Firma in Wroclaw untergekommen. Zum einen zahle diese nicht schlecht, "vor allem aber gefällt mir, dass es mit der Perspektivlosigkeit ein Ende hat, die ich lange verspürt habe", meint er: "Mein Land ist eben international isoliert, auch wenn wir an sich alles haben."